Kleinere Sagen.
Die vier Haymonskinder.
In alten Geschichten finden wir beschrieben, wie der mächtige
Kaiser Karolus Magnus den Brauch hatte, alle Jahre um Pfingsten
ein großes Hofgelage zu halten. Lange Jahre vor seiner feierlichen
Krönung zu Rom ließ er nun ein solches Bankett auch zu Paris ver-
auftatten und ließ dazu berufen alle die mächtigsten Fürsten der ganzen
Welt, geistliche und weltliche. Da war der Papst von Rom, der
Patriarch von Jerusalem, dazu zwölf gekrönte Könige, einundzwanzig
Herzöge, dreitausend Ritter und tausend Prälaten. Auch die schönsten
und edelsten Damen aus aller Herren Länder waren geladen.
Es war unter den Fürsten auch ein hochgeachteter Held von dem
Geschlechte Bourbon, Herr Haymon von Dordone, der dem Könige
viel treue Dienste gegen Heiden und Christen geleistet hatte, reich an
Schlössern und Städten, dazu wohlerfahren in allem ritterlichen Wesen
war, also daß seinesgleichen weit und breit nicht gefunden wurde.
Da er aber ein ernster, strenger Mann war, so ward er gefürchtet
von den anderen Herren im Lande, ja selbst vom Kaiser Karolus. Als
nuil bei diesem Feste eines Tages der Kaiser mit der Krone auf dein
Haupte in aller Majestät und Herrlichkeit auf dem Throne saß und reiche
Lehen verteilte, da trat Hugo von Bourbon, Haymons Schwester¬
sohn und ein gar lveidlicher Mann, vor den Thron, verneigte sich tief
und sprach mit großer Ehrerbietung: „Mein allergnädigster Herr hat
heute so viele Beweise seiner Huld gegeben; aber einen Mann hat er
nicht nach Würde gelohnet: meinen nahen Blutsfreuud Haymon von
Dordone." Über diese kühne Rede erzürnt, ries Karl: „Wahre deine
Zunge! Was ich gethan, ist mit Bedacht geschehen; Herr Haymon hat
der Lehen schon genug!" Allein unerschrocken versetzte Hugo: „Herr
Kaiser, sollte mein Verwandter geringeren Männern an Ehre nachstehen,
so brächte das Euch lveilig Lob unb Gunst bei anderen Fürsten und