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4. Bekannt ist das Märchen, daß der Storch dem Bauern, bei dem
er wohnt, eine Abgabe zahlt, im ersten Jahr eine Feder, im zweiten ein
Ei und im dritten ein Junges. Aber weniger verbreitet ist eine hübsche
kleine Geschichte, die ich einst in einem Sagenbuche fand: Der Diener
eines vornehmen Herrn aus Pommern, den dieser mit auf eine Reise ins
Morgenland genommen hatte, spazierte eines Tages in einem afrikanischen
Hafen herum, um sich die ausländischen Schiffe anzusehen und all das
fremdländische Volk, das sich dort umhertrieb. Da rief ihn eine fremde
Stimme an: „Guten Tag, Johann, wie kommst du hierher?“ Er sah
verwundert auf und erblickte einen langbeinigen Schwarzen, der auf einem
der Schiffe stand und ihm zurief: „Du kennst mich wohl nicht? Ich bin
doch der Storch bei dir zu Hause auf dem Dache. Im Winter leb' ich
hier als Mensch.“ Da hat Johann sich gegrault und ist schnell fort⸗
gegangen. Der schwarze Kerl aber hat hinter ihm her gelacht und mit
den Zähnen dazu geklappert wie ein Storch.
5. Es geht auch eine Sage von einem fernen Storchlande, wohin
die Störche im Winter ziehen, wo es überaus herrlich sein soll und jeder
findet, was er sich am meisten wünscht. Ein Graf mit seinen drei Dienern
war ausgezogen, es zu suchen. Sie waren über das große Meer ge—
fahren und hatten viele Wälder, Wüsten und Einöden durchwandert. Da
gelangten sie an die hohe, glatte Mauer, die das Storchland einschließt.
Der erste der drei Diener kletterte mit Hilfe der andern hinauf. Allein
kaum hatte er einen Blick auf die andre Seite getan, so nickte er höchst
zufrieden und sprang sofort hinüber. Nun halfen sie dem zweiten hinauf.
Der schnippte vor lauter Vergnügen mit den Fingern und war im Nu
verschwunden. Mit großer Mühe half nun der Graf dem letzten Diener,
die Mauer zu ersteigen. Kaum hatte dieser sich hinaufgeschwungen, so
strahlte er über das ganze Gesicht, rief: „Hurra!“, und weg war er.
Vergebens wartete der Graf auf die Rückkehr seiner Diener, und da er
allein nicht imstande war, die glatte Mauer zu erklettern, so mußte er
unverrichteter Dinge wieder umkehren und konnte niemandem erzählen, wie
es in dem wunderbaren Storchland aussieht.
6. Auch ein prophetischer Vogel ist der Storch. Wer den ersten
Storch im Jahre erblickt, muß darauf achten, ob er fliegt oder sitzt.
Sieht man ihn fliegen, so bedeutet es, daß man in dem folgenden Jahre
sehr fleißig sein wird; sieht man ihn aber sitzen, so wird das Gegenteil
der Fall sein.
Uach Heinrich Seidel. Universum.)