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16 A. Erzählende Prosa. II.Fabeln. Luther: D. Hahn u. d. Perle. Wolfu. Lämml.
und Stecken und trieb das Vieh selbst auf den Berg, wo sie den langen,
langen Tag unter vergeblichem Warten und Sorgen zubrachte. Aber als
sie abends hinter der gehörnten Schaar das Dorf hinunter ging, kamen
einige Maulthiere herauf ihr entgegen. Auf dem vordersten saß ihr Benedikt
hinter einem Knechte des Fürstbischofs, und zwar so munter, daß die Wit¬
frau sogleich sah, es müsie ihm den Tag über nicht schlecht gegangen sein.
Und so war es auch. Der Bischof hatte sich sogleich für die Pflaster¬
steine des Sandbuben entschieden und die fremden Steinmetzen wieder in
ihre Heimat entlasten, den Knaben aber mit sich in sein Haus genommen,
gespeist und ihm versichert, daß er für ihn und seine Mutter sorgen wolle.
Dann hatte er ihn mit dem Baumeister, der das Steinlager untersuchen
sollte, nach Solenhofen zurückgehen lasten.
Der Bischof hielt Wort. Nachdem Benedikt bei einem Meister Stein¬
metz in Eichstädt in der Lehre gewesen war, ließ er sich in Solenhofen
nieder und hatte fortwährend so viele Bestellungen an Pflaster- und Qua¬
dersteinen, daß es ihm und seiner Mutter nie mehr an dem täglichen
Brot fehlte.
II. Zabeln.
7. Der Hahn und die Perle.
Von vr. Martin Luther. Vermischte Schriften. Werke. Berlin, 1848.
Ein Hahn scharrte auf dem Miste und fand eine köstliche Perle. Als
er dieselbe im Koth so liegen sah, sprach er: „Siehe, du feines Ding¬
lein, wie liegst du hier so jämmerlich! Wenn dich ein Kaufmann fände,
der würde froh sein, und du würdest zu großen Ehren kommen; aber du
bist mir und ich dir nicht nütze. Ich nähme ein Körnlein oder Würm¬
lein und ließe Einem alle Perlen. Du magst bleiben, wie du liegst.“
Diese Fabel lehrt, daß Kunst und Weisheit bei groben Leuten ver¬
achtet ist; sie warnet aber, daß man die Lehre nicht verachten soll.
8. Der Wolf und das Lämmlein.
Bon vr. Martin Luther. Vermischte Schriften. Werke. Berlin, 1848.
Ein Wolf und ein Lämmlein kamen von ungefähr beide an einen
Bach, zu trinken; der Wolf trank oben am Bach, das Lämmlein aber fern
unten. Da der Wolf des Lämmleins gewahr ward, lief er zu ihm und
sprach: „Warum trübest du mir das Master, daß ich nicht trinken kann?“
Das Lämmlein antwortete: „Wie kann ich dir's Master trüben? Trinkest
du doch über mir und möchtest es mir wohl trüben." Der Wolf sprach:
„Wie? Fluchest du mir noch dazu?" Das Lämmlein antwortete: „Ich
fluche dir nicht." Der Wolf sprach: „Ja, dein Vater that mir vor sechs
Monden auch ein Solches." Das Lämmlein antwortete: „Bin ich doch da¬
zumal nicht geboren gewesen, wie soll ich meines Vaters entgelten?" Der
Wolf sprach: „So hast du mir aber meine Wiesen und Aecker abgenaget
und verderbet." Das Lämmlein antwortete: „Wie ist das möglich? Hab'
ich doch noch keine Zähne." — „Ei," sprach der Wolf, „und wenn du
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