Full text: [Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband]] (Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband])

Becker: Odysseus giebt sich den Phäaken zu erkennen. 
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und erwartete den näher kommenden Mann, der sie um Kleider und wei¬ 
tere Hilfe anflehte. Sie schickte ihm einige der frisch gewaschenen Ge¬ 
wänder, ließ ihn mit Speise und Trank erquicken und riet ihm in die 
Stadt der Phäaken zu gehen und im Palast ihres Vaters um gastliche 
Aufnahme zu bitten. Dann bestieg sie mit ihren Begleiterinnen den 
wäschebeladenen Wagen und fuhr in die Stadt zurück. 
Die Sonne war schon untergegangen, und alles war dunkel umher, als 
der Held sich aufmachte, um in die Stadt der Phäaken zu gehen. Mit 
Fleiß hatte er den Abend erwartet, damit er kein Aufsehen erregte oder 
irgend ein übermütiger Einwohner ihn mit Fragen belästigte oder gar mit 
Schmähungen kränkte. Und sieh, kaum näherte er sich den ersten Häusern, 
da trat schon seine Freundin Athene ihm entgegen, aber er kannte sie 
nicht. Sie hatte die Gestalt eines Mädchens angenommen, das mit 
seinem Wasserkruge vom Brunnen kam. „Liebe Tochter," redete Odysseus 
sie an, „zeigtest du mir wohl den Weg zu Alcinous' Wohnung, der hier 
bei euch König ist? Ich komme weither aus einem entlegenen Lande 
und kenne niemanden in dieser Stadt". — „Recht gern, Väterchen," ant¬ 
wortete die freundliche Dirne, „will ich dir das Haus, das du verlangst, 
zeigen. Der König wohnt ganz nahe bei meinem Vater. Komm nur 
immer mit mir, ich will dich so führen, daß du keinen Menschen weiter 
zu fragen noch zu sehen brauchst. Denn hier sind die Leute nicht allzu 
freundlich gegen Fremde. Das macht ihr kühnes Handwerk. Denn es 
sind Schiffer, aber ihre Schiffe sind auch schnell wie die Vögel und 
wie die Gedanken". 
Odysseus dankte dem lieben Mädchen und folgte ihr, von nie¬ 
mandem gesehen. Er sah staunend den geräumigen Markt und den 
Hafen, dessen Schiffe und Mauern hoch und trotzig durch die Däm¬ 
merung starrten. Als sie eine Weile gegangen waren, stand das Mäd¬ 
chen still und sagte: „Siehst du, Väterchen, hier ist des Königs Haus. 
Jetzt wirst du die Fürsten gerade bei der Mahlzeit finden. Da geh 
nur dreist hinein und fürchte dich nicht. Dem Kühnen gelingt ja alles 
am besten, wenn er auch anderswoher kommt. Aber eines will ich 
dir noch sagen. Wenn du in den Saal kommst, so suche nur erst die 
Königin auf, sie heißt Arete. Sie ist sehr klug und wird weit und 
breit geehrt vor allen übrigen Weibern, und der König selber hält sie 
gar hoch. Sie regiert alles und entscheidet sogar die Streitigkeiten der 
Männer mit Weisheit. Und wenn sie ausgeht, so grüßt sie alt und 
jung wie eine Göttin. Wenn diese dir wohlwill, so kannst du gewiß 
hoffen in dein Vaterland zu kommen und alle deine Wünsche zu er¬ 
reichen". 
Mit diesen Worten verließ Athene ihren Freund. Er aber ging 
in den Vorhof des Palastes und blieb verwundert an der Schwelle 
des Hauses stehen. Denn überaus schön fand er alles, was er hier 
sah, die Mauern wie von Erz, die Pfosten wie Silber, und golden 
war der Ring an der Pforte. Und in der Tiefe des offenen Saales 
waren rings an den Wänden Sessel gestellt, mit schönen Decken belegt, 
darauf saßen die Edeln der Phäaken und schmauseten. Neben ihnen
	        
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