An dem einen starken Nagel
Ein barmherzig Voglern zieh’n.
Blutbeträuft und ohne Rasten
Mit dem Schnabel zart und klein
Möcht’ den Heiland es vom Kreuze,
Seines Schöpfers Sohn, befrei’n.
Und der Heiland spricht in Milde:
„Sei gesegnet für und für!
Trag das Zeichen dieser Stunde,
Ewig Blut und Kreuzeszier!“
Kreuzesschnabel heisst de s VÖglein;
Ganz bedeckt von Blut so klar,
Singt es tief im Fichtenwalde
Märchenhaft und wunderbar.
Julius Mosen.
161. Her Hirsch am Bache.
Ein Hirsch trank aus einem klaren Gewässer und erblickte
in demselben sein Bild. — „Fürwahrrief er aus, „die Natur
meinte es nicht böse mit mir, wenigstens mit meinem Kopfe nicht!
Wie prächtig ist das Geweih, das ihn schmückt! Nur meine Schen¬
kel könnten etivas besser sein, und ich würde dann an vortrefflicher
Gestalt allen Tieren Trotz bieten
Indem er noch dieses sprach, hörte er Jagdhörner in der
Ferne tönen und sah die Hunde schon, die mit Bellen auf ihn zu¬
eilten. Er flog über die Felder hinweg und liess seine Verfolger
weit hinter sich zurück. Jetzt kam er in den Wald. Doch indem
er sich ins Dickicht retten ivollte, blieb er mit dem Geweihe an den
Asten eines Baumes hängen; die Hunde kamen herbei und rissen
ihn nieder.
„Ach,11 seufzte er kurz vor seinem Verscheiden, „ich Un¬
glücklicher habe thörichterweise meine Freunde für Feinde und
meinen Feind für einen Freund gehalten! Die Schenkel, die ich
tadelte, hatten mich beinahe schon gerettet; aber das Geweih, das
ich pries, hat mich ins Verderben gestürzt!1
August Gottlieb Meissner.