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mit diesem Tüchlein dein Kinde die Thränen aus den Augen ge¬
wischt hast, wird es nicht eher wieder weinen, als bis es von
dem tiefsten Leide betroffen wurde." Die Wärterin bedankte sich
für den guten Rat und sorgte noch an demselben Tage für das
Tüchlein. Als nun Mariechen wieder bitterlich weinte, wischte
sie ihm mit dein Zaubertuche die Thränen ab, und in demselben
Augenblicke hatte das Kind ganz trockne Augen. Aber über den
schönen blauen Augen lag etwas gebreitet wie ein dünner, grauer
Flor, und durch den grauen Flor schien des Kindes Seele zu
blicken, voll von einem tiefen, stummen Weh.
Von diesem Tage an weinte Mariechen nie wieder; der
Wärterin aber wurde bei der thränenlosen Traurigkeit ihres
Pfleglings immer unheimlicher, und es war ihr zu Mute, als
habe sie eine große Sünde damit begangen, daß sie das Kind
der Thränen beraubt hatte. Endlich konnte sie den thränenlosen
Schmerzensblick nicht länger ertragen und verließ das Haus der
Witwe.
Als Mariechen größer wurde und die Schule besuchen mußte,
hatte es viel zu leiden; denn weil es nie weinte, wenn es ge¬
scholten wurde, galt es für trotzig und erhielt härtere Strafen
als die Kinder, die weinen konnten.
So wuchs das Mädchen ohne Thränen aus und wurde eine
schöne Jungfrau. Da starb ganz unvermutet die Mutter. Die
Tochter kniete am Sterbebette, und das Herz wollte ihr brecken;
aber weinen konnte sie nicht, und auch an dem Tage, an welchem
die Mutter im Sarge lag und eine Menge Leute den Sarg wei-
ilend umgaben, stand sie allein ohne Thränen am Sarge mit um¬
florten Augen und preßte die Hand auf das schmerzlich pochende
Herz. Ein tieferes Weh glaubte sie nicht erleben zu können; denn
sie hatte ihre Mutter auf das zärtlichste geliebt. Doch meinten
die Leute, das müsse ein herzloses Kind sein, das seiner Mutter
auch nicht eine Thräne nachweine. Und doch trug die Jungfrau
tiefes Leid um ihre Mutter und betrat lange Zeit hindurch keinen
andern Weg als den zum Kirchhofe, um hier die Blumen auf der
Mutter Grabe zu pflegen.
Nach mehreren Jahren, die sie still und einsam verlebt
hatte, reichte sie ihre Hand einem jungen Maler. Nach einer
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