Full text: [Schuljahr 4, [Schülerband]] (Schuljahr 4, [Schülerband])

fröhlichen Hochzeit verlebten die beiden glückliche Tage. Endlich 
fiel es dem Manne auf, daß er nie eine Thräne in den Augen 
feiner schönen, sanften Frau sah, — auch dann nicht, wenn er sie 
einmal im Zorn gekränkt hatte. Sie sah ihn dann nur so schmerzlich 
mit umflorten Augen an, daß er es viel lieber gesehen hätte, wenn 
ihr die Augen in Thränen übergegangen wären. Als er sie da¬ 
her eines Tages fragte, wie es komme, daß sie nie weine, gab 
sie ihm traurig zur Antwort: „Ach, ich möchte oft gar gern wei¬ 
nen, aber ich habe keine Thränen. Als ich noch ein kleines Mäd¬ 
chen war, konnte ich meine Schmerzen ausweinen; aber meine 
Augen wurden plötzlich trocken, und ich habe nie wieder weinen 
können." Da bedauerte der Mann sein armes Weib, hatte es 
aber um so lieber und war um so mehr darauf bedacht, ihm 
keine Ursache zu Kummer und Schmerz zu geben. 
Nach zwei Jahren schenkte Gott der sanften, thränenlosen 
Frau ein schönes Knäblein. Nun hätte sie in ihrem Mutterglück 
gern Freudenthränen vergossen; aber sie konnte das Kind nur 
mit vor Freude leuchtenden Augen ihrem Manne auf die Arme 
legen, der es laut jubelnd nahm und mit ihm im Zimmer auf 
und nieder tanzte. 
Eines Tages wurde der schöne Knabe krank und schwand sichtbar 
dahin, ohne daß der Arzt einen Rat wußte. So oft der Vater 
sein liebes Kind anblickte, füllten sich seine Augen mit Thränen; 
die arme Mutter aber saß Tag und Nacht mit thränenlosen Au¬ 
gen neben dem Bette ihres Kindes und lauschte auf jeden Atem¬ 
zug. Als sie nun wieder einmal tief in der Nacht allein an dem 
kleinen Bette saß, hörte sie plötzlich den Atem ihres Kindes nicht 
mehr gehen; sie beugte sich voller Angst auf den Kleinen herab; 
seine Augen waren gebrochen, das Kind war tot. Da schrie sie 
laut auf, und als ihr Mann herbeikam, fiel sie ihm weinend um 
den Hals und führte ihn zu der kleinen Leiche, und ihre heißen 
Thränen fielen auf das schöne, bleiche Kindergesicht. Der Zauber 
war gelöst; denn sie hatte das schwerste Leid erfahren, das über 
ein Menschenherz kommen kann, den tiefsten Schmerz einer 
Mutter. Sie weinte und weinte den Pfühl naß, auf dem das 
Kind lag, und — plötzlich regte sich das Kind, schlug die Augen 
aus und streckte die kleinen Arme der Mutter entgegen. Die
	        
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