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A. Rein epische Poesie. I. Heroisches Epos.
7. Mit heißen Seufzern kehrt' er sich zu den Leichen dann
Und fügte jedem Leibe sein Haupt wieder an.
Jetzt kniet' er hin, gen Morgen gekehrt das Angesicht;
Das bloße Schwert in Händen, beginnt er flehend und spricht:
8. „O du, der Dinge Schöpfer, der Alles weiß und sieht
Und ohne dessen Willen auf Erden nichts geschieht,
Ich danke dir, Allvater; mich hat dein starker Arm
Vor Tod un-d aller Schande bewahrt im feindlichen Schwarm.
9. Jetzt aus bewegtem Herzen vernimm mein Flehn mit Huld!
Dem Schuldigen vergiebst du und züchtigst nur die Schuld;
O laß in deinem Reiche verjüngt mich wiederschaun,
Die, meinem Schwert gefallen, ich hier erblicke mit Graun!"
10. Nachdem er so gebetet, erhob er sich und trieb
Zusammen, was von Pferden der Gegner übrig blieb,
Und band sie fest mit Weiden; nur sechse noch, nicht mehr,
Denn drei entführte Günther, und zwei durchbohrte sein Speer.
11. Als nun am Himmel leuchtend erschien der Morgenstern
Und kaum der Tag ergraute — die Sonne war noch fern,
Doch hatte schon die Gräser ein kühler Thau genetzt —
Zum ersten Tagwerk wandte der kühne Jüngling sich jetzt.
12. Hü" lehnt' er seine Lanze und trat aufs Leichenfeld;
Die Waffen der Erschlagnen zu sammeln ging der Held;
Nur Spangen, Schwerter, Helme, den Harnisch und den Schild,
Den Gürtel auch; die Kleider ließ er den Schlummernden mild.
13. Damit belud der Ritter der fremden Rosse vier;
Die Braut erweckend, hob er sie auf das fünfte Thier;
Er selbst beschritt das sechste; den Löwen zog er nach
Am Zügel, als er jetzo den Wall der Dörner durchbrach.
14. Doch erst zur Ferne sandt' er der klaren Augen Strahl;
Mit scharfen Ohren lauscht' er hinunter in das Thal,
Ob er kein Flüstern hörte, nicht stolzer Männer Schritt,
Nicht einen Zaum erklingen, eines Hufes eisernen Tritt.
15. Als Alles schwieg, entließ er die Säumer aus dem Thor
Mit seiner schweren Beute, die Maid auch sandt' er vor;
Dann kam er selbst geritten in vollem Waffenstaat;
Der Löwe mit den Schreinen zuletzt die Straße betrat.
16. Sie waren tausend Schritte geritten oder mehr,
Die bange Jungfrau blickte mit Sorgen rings umher —
Da sah sie dort vom Hügel zwei rasche Männer nahn;
Vor Schreck erbleichend, trieb sie zur Flucht den Bräutigam an.
17. „Nun naht uns, lang verschoben, der Tod. Sie kommen; flieh!"
Da wandte sich Herr Walther, und gleich erkannt' er sie.
Er sprach: „So Viele starben, die ich vom Pferde stach,
Und sollt' ich jetzt für Ehre mir Spott erwerben und Schmach?
18. Aus tiefen Wunden lieber erblühe mir der Tod,
Eh' ich dem Land entlaufe nach eitler Furcht Gebot!
Auch wär' es noch zu frühe, verzweifelt' ich am Heil.
Groß ist die Noth, doch hab' ich wohl auch am Glücke noch Theil.
19. Nimm du den Zaum des Löwen, der unsre Schätze trägt,
Und eile zu dem Haine, der dort die Wipfel regt;