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einige hundert Protestanten aus seinem Gebiete vertrieb und die Flüch¬
tigen durch Süddeutschland zogen, da soll ein Mädchen aus ihrer Schar
einem reichen Bürgerssohne gefallen haben, der, lange vergeblich zum
Heiraten gedrängt und jetzt plötzlich entschlossen, bei seinem Vater, dessen
Freunden und dem herbeigeholten Prediger die Billigung seiner Absicht
durchsetzte, um das Mädchen warb und sie glücklich heimführte. Diesen
Stoff ergriff Goethe. Aus dem Bürgerssohn entstand sein Hermann,
aus der vertriebenen Salzburgerin seine Dorothea; dem Vater Hermanns
fügte er die Mutter hinzu; den Prediger behielt er bei, und die Freunde
ließ er durch einen Apotheker vertreten. Den Vorfall selbst aber ver¬
legte er in die Gegenwart und ersetzte die heimatlosen Protestanten durch
deutsche Auswanderer vom linken Rheinufer, welche vor den plündernden
Franzosen und den zahllosen Plackereien des Krieges die Flucht ergriffen
haben. Den religiösen Gegensatz verwandelte er in einen politischen, und
den Zeitereignissen gegenüber stellte er sich hier auf einen vorzugsweise
nationalen Standpunkt.
Die französische Revolution war ihm wie seinem Herzoge zuwider.
Sie machte sich überall geltend und verwirrte auch in Deutschland die
Geister. Ihren Einwirkungen zum Trotz die vaterländische Litteratur zu
behaupten und die öffentliche Teilnahme dabei festzuhalten, war eine
Lebensfrage für ihn, für Schiller und alle gleichgesinnten Genossen.
So dichtete er vieles, um seinen gegnerischen Standpunkt gegenüber
der Revolution offen und deutlich auszusprechen, aber alle diese Versuche
fanden nur wenig Beifall, indessen der patriotische Appell seines bürger¬
lichen Epos in allen patriotischen Herzen zündele.
Hermann, indem er verzweifelt, das geliebte Mädchen zu erlangen,
wägt in seiner Seele die Not des Vaterlandes, will Kriegsdienste nehmen
und den heimischen Boden gegen die Fremden verteidigen. Und da ihm
Dorothea zu teil wird, verbindet er mit dem Wechsel der Ringe das
ernste Gelöbnis, nach dem Beispiele der Völker zu leben, die für Gott
und Gesetz, für Eltern, Weiber und Kinder stritten und gegen den Feind
zusammenstanden. Droht neue Gefahr, so soll sein Weib selbst ihn
rüsten. „Und gedächte jeder wie ich", so schließt er und schließt das Ge¬
dicht, „so stünde bie Macht auf gegen die Macht, und wir erfreuten uns
alle des Friedens".
Wenn nun Goethe so die jüngste Vergangenheit festhielt und als
Zeit der Handlung ungefähr den August 1796 annahm, wenn er sorg¬
fältig die vorübergehenden Erscheinungen der Sitte und des Geschmackes
in die Erzählung verwob, wenn er aus neue Moden im Häuser- und
Gartenschmuck, auf veränderte Trachten, auf die Steigerung der Preise,
auf Mozarts „Zauberflöte" und ähnliches anspielte: so ging er doch auch
hier darauf aus, bleibende menschliche Verhältnisse darzustellen und diese
Dr. Saure, Deutsches Lesebuch. Ausgabe A. Teil V. 25