Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

177 
22. „Gerne möchten wir sie sehen", sprach da Ortwein. 
„Könnt ihr uns bescheiden, ihr schönen Mägdelein, 
Wo wir die Fürsten beide in ihrem Lande finden? 
Wir sind an sie gesendet, selber eines Königs Ingesinde." 
23. Gudrun die hehre sprach zu den Helden da: 
„Ich ließ sie in der Veste; heute Morgen sah 
Ich sie zu Bette liegen wohl mit vierzig hundert Mannen; 
Ich weiß nicht zu sagen, ob sie seitdem geritten sind von dannen." 
24. Da sprach der König Herwig: „Könnt ihr uns denn sagen, 
Vor wem die Kühnen so große Sorge tragen, 
Daß sie so viel Helden halten zu allen Zeiten? 
Zog' ich damit zu Felde, ich möchte wohl ein Königsland erstreiten." 
25. „Das tonnen wir nicht sagen", sprachen die Frau'n, 
„Wir wissen nicht, wohin sie nach andern Ländern schaun. 
Ein Land liegt in der Weite, das heißet Hegelingen; 
Sie fürchten zu allen Zeiten, das möcht' ihnen grimme Feinde bringen." 
26. Noch zitterten vor Kälte die schönen Mägdelein. 
Da sprach der König Herwig: „Möchte das doch sein, 
Daß es euch minnigliche deuchte keine Schande, 
Wenn ihr edeln Mädchen unsre Mäntel trüget auf dem Strande." 
27. Da sprach Hildens Tochter: „Gott laß euch selbst gedeih» 
Eure Mäntel beiden! An dem Leibe mein 
Sollen nicmands Augen Manneskleider sehen." 
Wenn sie sich erkennten, ihnen könnte Lieb'res nicht geschehen! 
28. Oftmals blickte Herwig die Jungfrau forschend an; 
Sie schien so schön dem Degen und auch so wohlgethan. 
Daß es ihn im Herzen oft zum Seufzen brachte; 
Sie glich so sehr der Einen, an die er oft gar inniglich gedachte. 
25. Da sprach von Ortland wieder der König Ortwein: 
„Ich frag' euch Mädchen beide, sollt' euch bekannt nicht sein 
Ein fremdes Ingesinde, das kam zu diesem Land? 
Eine war darunter, die wurde Gudrun genannt." 
30. „Das hab' ich wohl erfahren", sprach die schöne Maid, 
„Es kam ein fremd' Gesinde hierher vor langer Zeit; 
Nach starker Heerfahrt brachte man sie zu diesen Reichen. 
Den geraubten Frauen sah man das Antlitz großen Jammer bleichen." 
31. Sie sprach: „Die ihr da suchet, die hab' ich wohl gesehn 
In großen Mühsalen, das will ich euch gestehn." 
Sie war der Mädchen eine, die da Hartmut brachte; 
Ja Gudrun war sie selber, daher sie dieser Dinge wohl gedachte. 
^ 32. Da sprach König Herwig: „Nun seht, Herr Ortewein: 
Sollt' eure Schwester Gudrun noch am Leben sein 
In irgend einem Lande von allen Erdcnrcichen, 
So schwirr' ich, diese wär' es: niemals sah ich ihr ein Weib so gleichen." 
33. Da sprach König Ortwein: „Sic ist gar minniglich; 
Jedoch mit meiner Schwester nicht vergleicht sie sich. 
Aus unser beider Jugend gedenk' ich wohl der Stunde, 
Da hätte man auf Erden kein so schönes Mägdelein gefunden." 
12
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.