Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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299. Die drei Freunde. 
Traue keinem Freunde, -worin du ihn nicht geprüft hast; an 
der Tafel des Gastmahls gibt es mehr derselben, als an der Thür 
des Kerkers. 
Ein Mann hatte drei Freunde. Zwei derselben liebte er sehr, 
der dritte war ihm gleichgültig, ob dieser es schon am redlichsten 
mit ihm meinte. 
Einst ward er vor Gericht gefordert, wo er unschuldig, aber 
hart verklagt war. „Wer unter euch“, sprach er, „will mit mir 
gehen und für mich zeugen? Denn ich bin hart verklagt worden, 
und der König zürnet.“ 
Der erste seiner Freunde entschuldigte sich sogleich, dass er 
nicht mit ihm gehen könne wegen anderer Geschäfte. Der zweite 
begleitete ihn bis zur Thür des Richthauses; da wandte er sich und 
gieng zurück aus Furcht vor dem zornigen Richter. Der dritte, auf 
den er am wenigsten gebaut hatte, gieng hinein, redete für ihn und 
zeugte von seiner Unschuld so freudig, dass der Richter ihn losliess 
und beschenkte. 
Drei Freunde hat der Mensch in dieser Welt; wie betragen sie 
sich in der Stunde des Todes, wenn ihn Gott vor Gericht fordert? 
Das Geld, sein bester Freund, verlässt ihn zuerst und geht nicht 
mit ihm. Seine Verwandten und Freunde begleiten ihn bis zur 
Thür des Grabes und kehren wieder in ihre Häuser. Der dritte, 
den er im Leben oft am meisten vergass, sind seine guten Werke. 
Sie allein begleiten ihn bis zum Throne des Richters; sie gehen 
voran, sprechen für ihn und finden Barmherzigkeit und Gnade. 
J. G. v. Herder. 
Winterlied. 
Wer hat dein Bett bereitet, 
Die Decke dir gespreitet 
Und dich so schön mit Reif geschmückt? 
Der gute Vater droben 
Hat dir dein Kleid gewoben, 
Er schläft und schlummert nicht. 
So schlumm're denn in Frieden! 
Der Vater weckt die Müden 
Zu neuer Kraft, zu neuem Licht. 
Bald in des Lenzes Wehen 
Wirst du verjüngt erstehen 
Zum Leben wunderbar. 
Sein Odem schwebt hernieder, 
Dann, Erde, stehst du wieder 
Mit einem Blumenkranz im Haar. 
Adolf Krummacher. 
301. Die halbe Flasche. 
Nach der Schlacht von Fehrbellin, in welcher die Schweden von den 
Preußen geschlagen wurden, bat ein auf den Tod verwundeter Schwede 
einen vorübergehenden preußischen Soldaten um einen Trunk. Den sollst 
du haben, Kamerad", sagte dieser. Während er aber die Feldflasche los- 
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300. 
Wie ruhest du so stille 
In deiner weißen Hülle, 
Du mütterliches Land! 
Wo sind des Frühlings Lieder, 
Des Sommers bunt' Gefieder 
Und dein beblümtes Festgewand? 
Du schlummerst nun entkleidet; 
Kein Lamm, kein Schäslein weidet 
Auf deinen Aun und Höhn. 
Der Vöglein Lied verstummet, 
Und keine Biene summet, 
Doch bist du auch im Winter schön 
Die Zweig und Ästlein schimmer 
Und tausend Lichter flimmern, 
Wohin das Auge blickt.
	        
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