1905 —— 
sich bald daran und dachte nicht mehr an die Bedeutung dieser Sil— 
ben. In meines Vaters Bibliothek hatte ich bisher nur die früheren, 
besonders die zu seiner Zeit nach und nach heraufgekommenen und 
gerühmten Dichter gefunden. Alle diese hatten gereimt, und mein 
Vater hielt den Reim für poetische Werke unerlässlich. Canitz, Hage— 
dorn, Drollinger, Gellert, Creuz, Haller standen in schönen Franz— 
bänden in einer Reihe. An diese schlossen sich Neukirchs Telemach, 
Koppens befreites Jerusalem und andere Übersetzungen. Ich hatte 
diese sämmtlichen Bände von Kindheit auf fleißig durchgelesen und 
theilweise memoriert, weshalb ich denn zur Unterhaltung der Gesell— 
schaft öfters aufgerufen wurde. Eine verdrießliche Epoche im Gegen— 
theil eröffnete sich fuͤr meinen Vater, als durch Klopstocks Messias 
Verse, die ihm keine Verse schienen, ein Gegenstand der öffentlichen 
Bewunderung wurden. Er selbst hatte sich wohl gehütet, dieses Werk 
anzuschaffen; aber unser Hausfreund, Rath Schneider, schwärzte es 
ein und steckte es der Mutter und den Kindern zu. Auf diesen ge— 
schäftsthätigen Mann, welcher wenig las, hatte der Messias gleich bei 
seiner Erscheinung einen mächtigen Eindruck gemacht. Diese so natür— 
lich ausgedrückten und doch so schön veredelten frommen Gefühle, 
diese gefällige Sprache, wenn man sie auch nur für harmonische 
Prosa gelten ließ, hatten den übrigens trockenen Geschäftsmann so 
gewonnen, dass er die zehn ersten Gesänge, — denn von diesen ist eigent— 
lich die Rede, — als das herrlichste Erbauungsbuch betrachtete und solches 
alle Jahre einmal in der Charwoche, in welcher er sich von allen Ge— 
schäften zu entbinden wusste, für sich im stillen durchlas und sich daran 
fürs ganze Jahr erquickte. Anfangs dachte er, seine Empfindungen 
seinem alten Freunde mitzutheilen; allein er fand sich sehr bestürzt, 
als er eine unheilbare Abneigung vor einem Werke von so köstlichem 
Gehalt wegen einer, wie es ihm schien, gleichgiltigen äußeren Form 
gewahr werden musste. Es fehlte, wie sich leicht denken lässt, nicht 
an Wiederholung des Gesprächs über diesen Gegenstand; aber beide 
Theile entfernten sich immer weiter von einander; es gab heftige 
Scenen, und der nachgiebige Mann ließ sich endlich gefallen, von 
seinem Lieblingswerke zu schweigen, damit er nicht zugleich einen 
Jugendfreund und eine gute Sonntagssuppe verlöre. 
Proselyten zu machen ist der natürlichste Wunsch eines jeden 
Menschen, und wie sehr fand sich unser Freund im stillen belohnt, 
als er in der übrigen Familie für seinen Heiligen so offen gesinnte 
Gemüther entdeckte. Das Exemplar, das er jährlich nur eine Woche 
brauchte, war uns für die übrige Zeit gewidmet. Die Mutter hielt 
es heimlich, und wir Geschwister bemächtigten uns desselben, wann 
wir konnten, um in Freistunden, in irgend einem Winkel verborgen, 
die auffallendsten Stellen auswendig zu lernen und besonders die 
zartesten und heftigsten so geschwind als moͤglich ins Gedächtnis zu fassen. 
Porcias Traum recitierten wir um die Wette, und in das wilde, 
verzweifelnde Gespräch zwischen Satan und Adramelech, welche ins Rothe
	        
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