Full text: Auswahl deutscher Dichtungen aus dem Mittelalter

24. Da sprach Hildens Tochter: „Gott laß euch selbst gedeihn 
Eure Mäntel beiden! An dem Leibe mein 
Sollen Niemands Augen Manneslleider sehen.“ 
Wenn sie sich erkennten, ihnen wäre Liebres nicht geschehen. 
25. Oft blickte Herwig die Jungfrau forschend an; 
Sie schien so schön dem Degen und auch so wohlgethan, 
Daß es ihn im Herzen tief zum Seufzen brachte; 
Sie glich so sehr der Einen, an die er oft inniglich gedachte. 
26. Da sprach von Ortland wieder der König Ortwein: 
„Ich frag' euch Mädchen beide, sollt' euch bekannt nicht sein 
Ein fremdes Ingesinde, das kam zu diesem Land? 
Eine war darunter, die wurde Gudrun genannt.“ 
27. „Das hab' ich wohl erfahren,“ sprach die schöne Maid; 
Es kam ein fremd Gesinde hieher vor langer Zeit; 
Nach starker Heerfahrt brachte man sie zu diesen Reichen. 
Den geraubten Frauen sah man das Antlitz großen Jammer bleichen.“ 
28. Sie sprach: „Die ihr da suchet, die hab' ich wohl gesehn 
In großen Mühsalen, das will ich euch gesteh'n.“ 
Sie war der Mädchen Eine, die da Harlmuth brachte. 
Ja Gudrun war sie selber, daher sie dieser Dinge wohl a 
29. Da sprach der König Herwig: „Nun seht, Herr Ortewein; 
Sollt' eure Schwester Gudrun noch am Leben sein 
In irgend einem Lande von allen Erdenreichen, 
So schwür' ich, diese wär' es; niemals sah ich ihr ein Weib so 
gleichen.“ 
30. Da sprach König Ortwein: Sie ist minniglich; 
Jedoch meiner Schwester nicht vergleicht sie sich 
Aus unser beider Jugend gedenk' ich wohl der Stunde, 
Da hätte man auf Erden kein so schönes Mägdlein gefunden.“ 
31. Da ihn also nannte der kühne junge Mann 
Mit seinem Namen Ortwein, da sah ihn wieder an 
Gudrun, die arme. Ob es ihr Bruder wäre, 
Das wüußte sie so gerne; so würd' erleichtert ihres Herzens Schwere. 
32. Sie sprach: „Wie ihr auch heißet, ihr seid untadelig 
Einem Den ich kannte gleicht ihr seltsamlich. 
Er war geheißen Herwig und war von Seelanden; 
Wenn der Held noch lebte, ex löst' uns aus diesen strengen Banden. 
33. „Ich bin auch ihrer Eine, die mit Hartmuths Heer 
Im Streite gefangen geführt ward über Meer. 
Ihr suchet Gudrunen; das thut ihr ohne Noth; 
Die Magd von Hegelingen fand vor großem Leid den Tod.“ 
34. Da thränten Ortweinen seine Augen licht; 
Die Kunde ließ auch Herwig unbeweinet nicht. 
Als sie das vernahmen, daß gestorben wäre 
Die Magd von Hegelingen, das belud ihr Herz mit großer Schwere 
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