Full text: Grundriß der deutschen Geschichte für die mittleren Klassen höherer Lehranstalten

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II. Deutsche und nordische Sagen. 
Schiff und hieß die Knechte die Uferstricke zerschneiden. Allein mit 
der Leiche des ungeliebten Mannes fuhr sie hinaus in die schäumende 
Flut, bis die Wogen über dem steuerlosen Schifslein zusammenschlugen. 
So hielt das hochherzige Weib dem Toten ihr Versprechen. 
5. Die Siegfriedsage. (Nach dem Nibelungenliede.) 
Nach A. F. CH. Vilmar. Geschichte der deutschen Nationallitteratur. 
Im Burgundenlande, auf der alten Königsburg zu Worins an 
dem Rheine, wuchs eine edle Königstochter nach des Vaters frühem 
Tode zur blühenden Jungfrau heran, voll Liebreiz und Anmut. Leise, 
ahnungsreiche Träume umschweben das sinnende Haupt der lieblichen 
Kriemhild in der stillen Abgeschiedenheit, in welcher sie der edeln 
Zucht und Sitte ihrer Zeit gemäß ihre Kindheit und erste Jugend 
verlebte. Einen Falken, so zeigt ihr ein Traumgesicht, zieht sie auf 
und pflegt ihn als ihren Schützling manchen Tag — da stürzen sich 
zwei Adler herab und erdrücken mit ihren grimmen Klauen das zarte 
Tier vor ihren Augen. Schmerzlich bewegt erzählt die Erwachende 
den Traum der lieben Mutter. „Der Falke," so deutet diese, „ist 
ein edler Mann, dem deine Zukunft bestilnmt ist; wolle Gott ihll be¬ 
hüten, daß du nicht früh ihn verlierst!" — „Was sagt ihr, liebe 
Mutter, mir von einem Manne?" erwidert die Tochter; „ohne Minne 
eines Helden will ich bleiben, meine Jugendschönheit bewahren bis 
zum Tode, daß nicht meiner Liebe mit Leide zuletzt gelohnet wird." 
— „Nun, verrede es nicht zu sehr!" entgegnet die Mutter; „willst 
du jemals von Herzen froh werden, so geschieht dies von Mannes 
Minne. Du wirst eines edeln Helden schönes Weib." 
Heiter in fröhlicher Jugend, stark in frischem Mannesmute und 
gewaltig in kühner Kraft, ist inzwischen Siegfried im Niederland, zu 
Santen am Rheine, Siegmunds und Siegelindens Sohn, schon als 
Knabe zum Helden herangewachsen und schon durch manche Lande 
hingezogen, um freudig seines riesigen Leibes wunderbare Stärke zu 
versuchen; da hörte er die Kunde von der schönen Jungfrau zu 
Worms am Oberrhein, und der schönste und frischeste, der freudigste 
und herrlichste der Heldenjünglinge seiner Zeit zog aus der Heimat 
mit seinen Mannen, um zu Worms zu werben um die schönste, 
anmutigste und züchtigste Jungfrau, die in allen Landen zu finden 
war. Vor der Königsburg zu Worms reitet Siegfried mit seinen 
Mannen auf, Niesen gleich in männlicher Jugendkraft, in nie ge¬ 
sehenem, herrlichem Schmucke der Rüstungen und der Rosse. Niemand 
kennt die vor dem Königssaale am Rheinufer haltenden Mannen, 
niemand ihren Führer, den Jüngling von königlicher Gestalt. Da 
wird nach Hagen von Tronei gesandt, dem alle fremden Lande kund
	        
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