Full text: [Band 3 = Oberstufe, [Schülerband]] (Band 3 = Oberstufe, [Schülerband])

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Was hatte der Gefängnisdirektor heute gesagt? 
„Peter Wenzel, Ihr damaliger Aufseher ist wirklich ein Schuft gewesen, der 
seinen Herrn und noch mehr seine Leute betrog. Aber, Wenzel, wer darf seine 
Hand gegen seinen Mitmenschen heben? Das Leben des Menschen ist heilig. 
Nun, Wenzel, das letzte Jahr Ihrer Strafe ist Ihnen geschenkt worden. Machen 
Sie sich dieser Gnade würdig. Werden Sie ein braver Mann und meiden Sie 
den Schnaps!" 
Schnaps! Er wußte nicht mehr, wie Schnaps schmeckte. Er hatte es ver¬ 
gessen, wie er vergessen hatte, wie's im Walde aussieht. 
Wenn er nur nicht nach Hause müßte! . . . 
Sonst hatte er sich so gesehnt danach, und jetzt, da er heim sollte, fürchtete er sich. 
Er mußte wieder vors Gericht. Vor das Gericht der Seinigen. Mit stillen, 
fragenden Augen würden sie ihn anschauen: 
„Was hast du getan?" 
Und die ganze Gemeinde würde zu Gericht sitzen; hundertmal würde die 
Anklage wieder erhoben, seine Schuld erzählt, vergrößert, besprochen werden von 
Mund zu Mund, und ein Verteidiger würde sich nicht sinden. 
Warum war er so furchtsam gewesen dort unten? 
„Begnadigt!" 
Er lachte, daß der stille Wald schallte. Heimkommen ist gut, aber kein 
Ehrgefühl muß man haben, sonst geht sich's nach Hause wie in die Hölle. 
Und doch mußte er heim! Er mußte sehen, wie alles war. Nicht ein ein¬ 
ziges Mal hatte er Nachricht bekommen in diesen zwei langen Jahren. Vielleicht 
war sein Häuschen verkauft, und seine Leute waren fort in alle Welt. 
Sein Weib hatte ihn wohl vergessen. Es würde ihr nicht schwer ge¬ 
worden sein. 
Die Johanna! Was war sie für ein hübsches Mädel, was war er einmal 
für ein schmucker Kerl! Damals, als er Kürassier war und auf Urlaub kam. 
Aber dann? . . . Der Schnaps, der verfluchte Schnaps! Es war kein Wunder, 
wenn sie sich nun nicht mehr nach dem Säufer sehnte, der sie prügelte. 
Er aber hatte sich nach ihr gesehnt . . . schwer, schwer nach ihr gesehnt, 
und die alte tote Liebe war wieder in ihm lebendig geworden, wie sie war, als 
sie beide noch jung waren. 
Am meisten aber hatte er sich nach dem Kinde gesehnt, nach dem kleinen 
Annchen. Die war sein Liebling, die hatte er nie geschlagen; die hatte sich auch 
vor ihm nicht gefürchtet. Jetzt würde sie schon sechs Jahre alt sein und zur 
Schule gehen. Wie niedlich das sein mußte, wenn das kleine flinke Ding eine 
Schultasche trug! 
Sie würde sich freuen, sie ... o ja! Ihr hatte er ja nie etwas zuleide 
getan . . . niemals. Sie würde sich freuen, wenn der Vater heimkam.
	        
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