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seines Lebens ganz und gar den Geschäften der Regierung. „Mit wahrhaft
bewundernswerter Mannhaftigkeit," schreibt damals Feldmarschall Moltke, „trägt
er sein schweres Leiden. In der äußeren Erscheinung ist er noch immer der
stattliche, kräftige Mann. Mau sieht ihm nicht au, daß er so schwer leidend ist."*)
Nur die formalen Angelegenheiten wurden, zur Entlastung des hohen Kranken,
dem erlauchten ältesten Sohne übertragen. Ter Kaiser empfing zahlreiche Ab¬
ordnungen und Besuche, arbeitete stundenlang am Schreibtische, nahm die Vor¬
trüge von Civil- und Militärpersonen entgegen. Seine körperliche Rüstigkeit,
seine geistige Frische flößte allen, die ihn damals sahen, die höchste Bewunde¬
rung ein. Es kam vor, daß er, weitn bei der Arbeit mit den Ministern ein
gesuchtes Aktenstück nicht sogleich zur Hand war, selber aufsprang und es her¬
beiholte. Fürst Bismarck litt damals an heftiger Venenentzündung: obwohl
ihm der Kaiser ein für allemal gestattet hatte, feinen Vortrug sitzend zu halten,
konnte der Kanzler doch eines Tages den Ausdruck seines körperlichen Schmerzes
nicht ganz unterdrücken: fofort stand der Kaiser aus, holte einen zweiten Sessel
herbei, legte selber seines Ministers Füße daraus, so daß sie eine bequeme Lage
hatten, und umwickelte sie mit einer wollenen Decke.
Und doch wußte dieser Kaiser, der so freudig feine Arbeit that, jedem so
männlich und freundlich entgegen kam, so gütig gegen alle war, die ihm nahten
— er wußte, daß fein Thun eitel Stückwerk bleiben müsse, daß ihm der Tod
in der wunden Kehle sitze, und daß er nicht die Macht habe, auch nur eine
der lang gehegten Jdeeen, einen der längst gefaßten Beschlüsse durchzuführen!
Eine wahrhaft übermenschliche Selbstbeherrschung übte dieser unvergleichliche
Mann.
Das Volk jedoch beurteilte den Monarchen nicht nach feinen Thaten, son¬
dern nach dem, was es von feinen Wünschen und Absichten wußte. Es erhoffte
von dem schnell und mächtig eintretenden Frühling eine dauernde Besserung in
deut Befinden des geliebten Herrschers. Voll rührender Teilnahme pilgerten
täglich Taufende hinaus nach dem Charlottenburger Schlosse und harrten stun¬
denlang geduldig, bis er am Fenster erschien und mit herzgewinnender Freund¬
lichkeit zu der Menge hinunterwinkte.
Ant 28. März gestattete das helle sonnige Wetter dem hohen Kranken den
ersten Ausgang in den Garten, und am nächsten Tage konnte er sogar eine
Fahrt in den Grunewald unternehmen; ja, am 30. erlaubten ihm feine Arzte
sich nach Berlin zu begeben. Allen unerwartet fuhr der Kaiser um 11 x/2 Uhr
vormittags mit seiner Gemahlin, gefolgt von feinen Kindern und feinem
Schwiegersöhne, in das Brandenburger Thor ein. Die Nachricht von diesem
Ereignis verbreitete sich wie ein Lauffeuer, uud unter den Linden strömte schnell
eine zahllose Menge zusammen, deren stürmische Zurufe dem edlen Dulder zeigten,
*) Bries Mv likes au seine Schwester Magdalena, vom 22., und an seinen Neffen Wil¬
helm, vom 26. März 1888; Gesammelte Schriften, Bd. V. (1892), S. 72. 125.
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