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gewinn von Elsaß und Lothringen brachte der Krieg von
1870—1871 dem deutschen Volke noch eine andere köstliche
Frucht: er vollendete Deutschlands Einheit. Durch
den gemeinsam bestandenen siegreichen Kampf fühlten' sich
alle Stämme Deutschlands inniger als je zuvor mit einander
vereinigt; ein „einig Volk von Brüdern" wollten sie für
alle Zukunft sein und bleiben. Und so geschah es denn, daß,
ehe noch Paris in deutsche Hände gefallen war, alle süd¬
deutschen Fürsten Abgesandte in das Hauptquartier des
Königs von Preußen nach Versailles mit der Bitte sandten,
den Norddeutschen Bund durch Aufnahme der süddeutschen
Staaten zu einem Deutschen Reiche zu erweitern.
Unter dem Beifalle des gesamten Volkes kam das hochwich¬
tige Werk rasch zustande.
2. Der deutsche Kaiser. — Und wie das alte
Reich deutscher Nation zu seinem Haupte den Kaiser
hatte, so sollte nun auch die im Gedächtnis des Volkes
allezeit bewahrte Kaiserwürde wieder aufleben. So
beschlossen es einmütig die deutschen Fürsten und Freien
Städte, als der edle König Ludwig II. von Bayern
sie aufforderte, den, König Wilhelm den Siegreichen
von Preußen zur Übernahme dieser Würde einzuladen. Am
18. Januar 18 7 1, dem Tage, da vor 170 Jahren
das preußische Königtum gestiftet wurde, fand die feier¬
liche Errichtung des neuen deutschen Kaiser¬
reiches statt. Die Verkündigung geschah vor den Mauern
des seinem Falle nahen stolzen Paris, im Königsschlosfe zu
Versailles. Ein Kreis deutscher Fürsten, Heerführer, Staats¬
männer und Krieger war in dem mit Fahnen der deutschen
Heere geschmückten Festsaale um den König von Preußen
versammelt. Und als am Schlüsse eines festlichen Gottes¬
dienstes der Lobgesang: „Nun danket alle Gott!" ver¬
klungen war, da erklärte der König laut und feierlich vor
allen Zeugen, daß er die Kaiferwürde übernehme, und der
Kanzler Bismarck verlas des Kaisers Ansprache an das
deutsche Volk. Mit lauter Stimme aber antwortete der
Großherzog von Baden und rief: „Hoch lebe Seine Ma¬
jestät der Kaiser Wilhelm!" und die ganze Versamm¬
lung stimmte dreimal begeistert ein. So ward, während