Full text: Erstes Lesebuch für die Oberstufe (Teil 5, [Schülerband])

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H. Deutsches Land und Volk 
besitzer in ihrem Vermögen gänzlich herunterßkommen; einige 
gute Weinjahre dagegen reichen oft hin, allen Schaden wieder 
gut zu machen. 
Durch den Anbau haben sich eine Menge Abarten des Wein- 
stocks gebildet, so daß man bereits über 1600 Arten zaählt. Unter 
den deutschen Weinen wird der Rheinwein für den besten gehalten. 
In Europa werden jährlich über 100 Millionen Hektoliter Wein 
gewonnen. Weder der Zucker-, noch der Kaffeebau, noch auch 
der Teebau der Chinesen gewähren einen so reichen Ertrag. 
In Griechenland wird eine Art des Weinstocks angebaut, die 
kleine, kernlose Beeren trägt; sie kommen unter dem Namen 
Korinthen oder kleine Rosinen in den Handel. Die getrock- 
neten größeren Beeren südlicher Weinstöcke heißen große 
Rosinen. Beide Sorten bilden einen bedeutenden Handels- 
gegenstand. Berliner. 
191. Der deutsche Banm — die Linde. 
1 Viele halten die Eiche für unsern deutschen Volksbaum und pflanzen 
„Kaiser⸗, Sieges- und Friedenseichen“. Sie ist auch ein gar herrlicher Baum 
und mit Recht von alters her der gepflegte und viel besungene Liebling der 
Deutschen. Aber die Eiche ist doch nicht der wahre deutsche Volksbaum; sie ist 
nicht einmal in Deutschland am häufigsten, sondern über die ganze nördliche 
Erdhälfte verbreitet, nicht nur in Frankreich und England, sondern in Klein— 
asien und sehr zahlreich in Amerika. Den Preis, ein deutscher Baum zu 
sein, verdient vor allem die Linde. An ihr hat von alters her das Herz 
unsers deutschen Volkes mit ganz besondrer Vorliebe gehangen. Von der 
Linde haben unsre alten Dichter gesungen; an die Linde knüpfen sich die 
schönsten deutschen Volkssagen. Wer weiß nicht aus dem Nibelungenliede, 
daß es ein Lindenblatt war, das dem gehörnten Siegfried zwischen den 
Schultern klebte, als er sich im Blute des erschlagenen Drachen badete. 
Walther von der Vogelweide preist in seinen Liedern immer nur die Linde— 
Aus den Volksliedern in „Des Knaben Wunderhorn“ strömt förmlich der 
Duft der Linde. Von der Reformationszeit her kennen wir zahlreiche Luther⸗ 
linden, unter denen der gewaltige Gottes- und Volksmann gepredigt hat. 
2. Besonders war die Linde der deutsche Hausbaum, der wie ein 
treuer Hausfreund Leid und Freude der Geschlechter teilnehmend mit ansah. 
Aber nicht bloß vor vielen Häusern, sondern auch auf den Friedhöfen, an 
alten Kirchen, auf Marktplätzen, vor den Toren, mitten in den Dörfern 
finden wir uralte Linden. Unter der Linde beging das Volk seine Feste, 
unter der Linde wurde Gericht gehalten. Solch alte Gerichtslinden stehen
	        
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