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gingen selbdritt zu Fuß, rechts und links der Vater und Sohn und in der Mitte
der Esel. Kommt ein vierter Wandersmann und sagt: „Ihr seid drei kuriose
Gesellen. Ist's nicht genug, wenn zwei zu Fuß gehen? Geht's nicht leichter, wenn
einer von euch reitet?“ Da band der Vater dem Esel die vorderen Beine
zusammen, und der Sohn band ihm die hinteren Beine zusammen, zogen einen
starken Baumpfahl durch, der an der Slraße stand, und trugen den Esel auf
der Achsel heim.
So weit kann's kommen, wenn man es allen Leuten will recht machen.
VIII. Exrzählungen.
66. Die erbetene Schuhmauer.
Johann Arnold Kanne.
In der Zeit des Glaubens frommt uns nicht, viel Großes und Wunder—
bares zu schauen, und Gott pflegt, wo er sich offenbaren will, seine Größe noch
hinter der Kleinheit der Mittel, durch die er fich offenbart, zu verbergen und zu
verhuüllen. Kann er für uns Arme doch nie anders groß als im Kleinen sein!
Aber doch, wie oft ist diese seine gewöhnliche und notwendige Weise zu handeln
derkannt worden! Sagen sie nicht, dies und das ist zu gering für ihn, darum
hat nicht er's, sondern der Zufall gethan?
Jin Anfang des Jahres 1814 standen Schweden, Kosaken und die russisch—
deutsche Legion nur eine Viertelstunde von Schleswig entfernt; jeden Tag kam
vom Lande her den Stadtbewohnern eine neue Schreckensnachricht zu; denn wild
und rauh war das Betragen einiger aus dieser feindlichen Schar, und was mußte
man erst erwarten, wenn die Zeit des Waffenstillstandes abgelaufen war! Angst—⸗
voll sah man der Mitternachtsstunde des 5. Januar entgegen, denn da war
dieser Waffenstillstand zu Ende. Da wohnte nun am Eingange der Stadt nach
der Seite hin, wo der Feind stand, eine alte fromme Frau, Großmutter von
einem zwanzigjährigen Enkel, der nebst seiner schon ziemlich bejahrten Mutter
mit der alten Frau in einem Hause wohnte. Betete sie in guten Tagen, was
sollte sie nicht in bösen Tagen belen? Ja, ja, die Zeit der Not ist just die
Zeit, wo man nur ganz dreist zu Gott kommen darf, wenn man auch sonst nicht
zu ihm gekommen ist; denn die Not ist sein gewöhnliches Einladungsschreiben
an harte Herzen, daß sie weich werden sollen und ihn suchen. Die gute Frau
betete nun in diesen Tagen ganz einfältiglich mit Inbrunst den Vers eines alten
Kirchenliedes:
„Eine Mauer um uns bau',
Daß dem Feinde davor grau'!“
Das hörte der Enkel. „Ei, Großmutter,“ sagte er, „wie möget Ihr doch
um ein so unmögliches Ding bitten, daß der liebe Gott gerade um euer Haus
dine Mauer bauen soll, daß der Feind nicht dazu kommt?“ — „Das will ich
damit auch nicht gesagt haben,“ versetzte sie, „sondern ich hab's anders gemeint,
näͤmlich der Herr wolle gnädiglich uns und unsere Stadt vor dem Feinde be⸗—
schützen und bewahren; das habe ich mit dem Gebete sagen wollen. Aber was
denkst du denn? Weunn's nun Gott eben auch gefiele, so eine Mauer um uns
her zu bauen, meinst du, daß er das nicht könnte?“