Virginia. 33
Virginia, die schöne Tochter eines angesehenen Ple¬
bejers Virginins, hatte das lüsterne Auge des Appius auf
sich gezogen. Da er durch Geschenke und Versprechuugeu das
Mädchen nicht gewinnen konnte, entschloß er sich zur Gewalt.
Während Virgiuius als Hauptmann im Felde stand, hieß er
seinen Klienten M. Claudius die Virginia als seine Sklavin
beanspruchen und sich ihrer bemächtigen. Als das Mädchen
nach der Schule ging — sie war erst 12 Jahre alt — legte
M. Claudius auf offenem Markte Hand an sie und befahl
ihr ihm zu folgen; sie fei eine Tochter feiner Sklavin und
der Frau des Virgiuius als Kind untergeschoben. Er führte
das Mädchen vor den Richterstuhl des Appins Claudius,
damit er es nach dem Recht ihm zuspreche. Die Drohungen
des herzugeströmten Volkes und des herbeigeeilten Bräu¬
tigams der Virginia, Jeilins, der früher Tribun gewesen,
machten denn doch den Appius bedenklich, und er erklärte,
er wolle heute nicht Recht sprechen, da Virgiuius nicht zu¬
gegen fei; stelle sich aber der Vater morgen nicht, so werde
er ohne Rücksicht auf ihn feinen Spruch thun. Das Mädchen
blieb in den Händen feiner Verteidiger. Appius jedoch
schrieb sogleich an feine Kollegen im Lager, sie sollten dem
Virgiuius keinen Urlaub geben, sondern ihn in Haft halten.
Als aber fein Brief ankam, war Virginins schon in Rom;
denn Jcilins und feine Freunde hatten ihn über die Dinge
in Rom benachrichtigt.
Früh am andern Morgen war der Markt von einer
Menge Volkes angefüllt; Virgiuius in Trauerkleidern ging
mit feiner Tochter und Julius unter den Leuten umher und
bat um ihren Beistand. Da bestieg Appius den Richterstuhl,
und ohne sich um den Widerspruch des Virgiuius und die
drohende Haltung der Menge zu kümmern, sprach er feinem
Klienten die Virginia als Sklavin zu. Alles war erstarrt
über das Unbegreifliche eines solchen Spruches. Als aber
M. Claudius auf die Jungfrau zugiug, um sie zu ergreifen,
drängte sich die Menge zur Abwehr herbei; doch die Droh-
worte des Gewalthabers scheuchten sie auseinander, und das
Mädchen stand verlassen da, der Mißhandlung zum Raube.
Stoll, Erzählungen, n. 3