706 Eröffnung des ersten Reichstag«.
Wir haben erreicht, was seit der Zeit unserer Väter für Deutschland
erstrebt wurde: die Einheit und deren organische Gestaltung, die Sicherung
unserer Grenzen, die Unabhängigkeit unserer nationalen Rechtsentwickelung.
Das Bewußtsein seiner Einheit war in dem deutschen Volke, wenn
auch verhüllt, doch stets lebendig: es hat seine Hülle gesprengt in der Be¬
geisterung, mit welcher die gesammte Nation sich zur Vertheidigung des
bedrohten Vaterlandes erhob und in unvertilgbarer Schrift auf den Schlacht¬
feldern Frankreichs ihren Willen verzeichnete, ein einiges Volk zu sein und
zu bleiben.
Der Geist, welcher in dem deutschen Volke lebt und seine Bildung
und Gesittung durchdringt, nicht minder die Verfassung des Reiches und
seine Heeres-Eiurichtuugen, bewahren Deutschland inmitten seiner Erfolge
vor jeder Versuchung zum Mißbrauche seiner, durch seine Einigung gewon¬
nenen Kraft. Die Achtung, welche Deutschland für seine eigene Selbst¬
ständigkeit in Anspruch nimmt, zollt es bereitwillig der Unabhängigkeit aller
anderen Staaten und Völker, der schwachen, wie der starken. Das neue
Deutschland, wie es aus der Feuerprobe des gegenwärtigen Krieges hervor¬
gegangen ist, wird ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein,
weil es stark und selbstbewußt genug ist, um sich die Ordnung seiner eigenen
Angelegenheiten als sein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufrieden¬
stellendes Erbtheil zu bewahren." —
Der Kaiser schloß mit den Worten:
„Möge die Wiederherstellung des deutschen Reiches für die deutsche
Nation auch nach Innen das Wahrzeichen neuer Größe sein; möge dem
deutschen Reichskriege, den wir so ruhmreich geführt, ein nicht minder glor¬
reicher Reichsfrieden folgen, und möge die Aufgabe des deutschen Volkes
fortan darin beschlossen sein, sich in dem Wettkampfe um die Güter des
Friedens als Sieger zu erweisen.
Das walte Gott!"
65. Der Jfriebe zu Frankfurt.
Die Commune in Paris. Bevor es zum endgültigen Friedens¬
schlüsse kam, sollte Frankreich noch eine neue tiefe Erschütterung erfahren: in
Paris brach eine neue Revolution aus und brachte den Bestand der kaum
errichteten Regierung in ernste Gefahr. Der Keim der neuen Verwirrung
lag in der Zeit der Belagerung, in der damals gebildeten Nationalgarde,
in welcher mehrere hunderttausend Männer aus den untersten Volksklassen
mit guter Besoldung aus öffentlichen Kassen ein müssiges Soldatenspiel
getrieben hatten, ohne bei der Vertheidigung der Hauptstadt irgend etwas
zu leisten. Es war vorauszusehen, daß diese Kräfte ungern zu ernstlicher
Arbeit zurückkehren, ungern auf ihre gewonnene Macht verzichten würden;
die republikanische Regierung hatte aber, ungeachtet aller mahnenden Rath¬
schläge des Grafen Bismarck, nicht den Muth und die Entschlossenheit ge¬
habt, diese revolutionären Elemente gleich bei der Capitulation zu ent¬
waffnen. Die traurigen Folgen ließen nicht aus sich warten. Noch in