Full text: Reallexikon des classischen Alterthums für Gymnasien

Myt-hologie. 
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einen ganz anbeten ©eist, als ifjiten ursprünglich 
inwohnte, eingehaucht. Homet ist für Mythologie 
unb Religionswesen ber Griechen außerordentlich 
wichtig, nicht blos, weil seine Werke für bie my¬ 
thologische Forschung bie älteste Quelle sinb, son- 
bern auch, weil er, das Werk einer langen Reche 
vorhergehenber epischer Dichter fortsetzet unb 
abschließenb, enbtich bie ursprünglich an bte Natur 
gebundenen griechischen Gottheiten zu klaren unb 
vollkommen ausgebildeten Persönlichkeiten, zu sitt¬ 
lich freien Wesen geformt, weil er überhaupt die 
mythologische unb religiöse Auffassung seiner Zeit 
als inaßgebenb für bie nächsten Jahrhunderte bcr 
echthellenischen Zeit hingestellt unb, bie bisherige 
laubschaftliche Geschiebenheit überwinbenb, eine 
nationale Einheit bes religiösen Bewußtseins unb 
ber barauf betuhenben Mythenwelt herbeigeführt 
hat. Darum sagt Herobot (2, 53.), Homer und 
Hesiod hätten den Hellenen ihre Mythologie unb 
Theogouie gemacht. Hesiob ist für bie Mytho¬ 
logie nicht miuber wichtig als Homer. Während 
Horner die heroische Mythologie, in welche jedoch 
die Gottheiten des Cultus mannigfach verwebt 
sind, repräsentirt, vertritt Hesiod bie kostnogo- 
nische unb theogonischc Mythologie, inbeut er 
zeigt, wie bas jetzt herrschend Göttergeschlecht 
durch Zeugungen und Umwälzungen aus einem 
früheren, dem der Titanen, und wie diese ans 
dem Urroefen ber Natur hervorgegangen sind. - 
Die Mythologie bleibt in ber folgenben Zeit stets 
ein hauptsächliches Material für bie dichtende unb 
bilbenbe Kunst, sowie für bie wissenschaftliche 
Thätigkeit bes griechischen Volkes. Das Epos 
nach Homer unb Hesiob beschäftigte sich meistens 
damit, mythologischen Stoff zu sammeln unb zu 
einzelnen Cyklen zusammenzustellen. Die Lyriker 
behandeln bie mythischen Stoffe auf eine freiere 
Weise, indem sie dieselben nach ben religiösen 
Vorstellungen ihrer Zeit, nach den Forderungen 
einer höheren Sittlichkeit und nach den besonderen 
Zwecken ihrer Gedichte umformen, zufügen unb 
abschneiden. Pinbar z. B. zweifelt zwar nicht an 
dem poetischen des Mythos; wo ihm aber ein 
Factum mit der Sitlichkeit oder der Würde der 
Götter und Heroen zu streiten scheint, da änbert 
er ben Mythos in bem Glauben, baß Unverstanb 
ober böser Wille der Erzähler ihn entstellt haben 
(ol. 1, 47.). Auch bie Tragiker behandeln ben 
- Mythos auf eine freiere Weife; sie wählen nnb 
tieränbern ihn mit Rücksicht auf ihr Publicum 
unb auf bie Forberungen ber tragischen Poesie, 
inbent sie betn Nationalstes ber Attifer zu schmei¬ 
cheln suchen, ben Stoff abrunben unb in ihm bie 
tragischen Momente hervorkehren. Aischylos, bem 
bie Vorliebe für speculative unb theologische Ge¬ 
sichtspuncte eigenthümlich ist, unb Sophokles, bcr 
mehr bem Wirklichen unb Geschichtlichen zuge- 
wanbt ist, halten sich weit treuer an bie Ueber¬ 
lieferung, als Euripides, der schon in ber Zeit 
bcr religiösen Aufklärung steht unb einem schwan- 
kertben unb unentschiebenen Philosophiren verfallen 
ist. Die alexandrinischen und die damit zusam¬ 
menhängenden römischen Dichter suchten besonders 
durch unbekannte, aus der localen Mythologie 
ausgesuchte Stoffe zu prunken und zu feffeln. 
Der bildenden Kunst lieferte die Mythologie eines¬ 
teils den allgemeinen Stoff der Decoration unb 
Charakteristik au Gefäßen und sonstigen Gerätheu 
und an Gebäubeu im weitesten Umfange, so baß 
ber ganze mythologische Stoff, ber schon in ber 
Poesie nach seinen poetischen Motiven burchgear 
beitet war, mm auch zur plastisch künstlerischen, 
räumlich körperlichen Auffassung unb Darstellung 
kam; anberntheils bethätigte sich bie Kunst in ber 
Tempclbilduerci als eine productive Macht, welche 
bie burch bie Poesie bes Homer zuerst zu klarer 
geistiger Anschauung gebrachten Götteribeale bem 
Volke körperlich sinnlich vor Augen stellte. — 
Unter ben prosaischen Schriftstellern setzten bte 
Logographen und älteren Geschichtschreiber das 
Werk der kyklischen Epiker fort, indem sie die 
ans der Localmythologie unb ben epischen Ge¬ 
dichten geschöpften Sagen in gedrängtem unb geord¬ 
netem Zusammenhang überlieferten, cincThätigkeit, 
in welcher später bie mythographischen Sammler 
(Apollobor), bie Commeutatoren ber Dichter und 
' die Periegeten (Pausanias) folgten. Herobot unb 
I Thukydibes behandeln gelegentlich mythische Er¬ 
zählungen unb ziehen aus ihnen geschichtliche Er¬ 
gebnisse, boch ohne eigentlich wissenschaftliche Me- 
i thobe. Bei ben folgenben Historikern, z. B. Evhoros 
; unb besonbers Euhemeros, woran sich Diobor von 
Sicilien anschließt, kam in ber Mttfhenbehanbliiug 
ber Pragmatismus (b. H. bas Streben, bie My 
ihett zur Historie zu machen) auf, beffeit Anfänge 
sich schon bei einigen bcr Logographen vorfinbeu. 
Die Philosophie nahm von Anfang au eine bop 
pelte Stellung zutu Mythos ein; entweber ver¬ 
suchte sie ihn allegorisch zn betitelt nnb bnburch 
: zu stützen, ober sie erklärte seinen Inhalt für 
Unwahrheit. Diese beiden Richtungen gehen durch 
das ganze Alterthum neben einander her, treten 
aber gegen das Ende bes siukenben Heidenthums 
ganz besonbers hervor; namentlich hanbhabten bie 
Neuplatoniker unb Gnostiker zur Stützung ihrer 
theologischen Dogmen bie allegorische Mythen 
j beutung aus die willkürlichste Weise, währenb 
diesem geistlosen nnb phantastischen Dogmatismus 
gegenüber bie Skepsis immer entschiedener unb 
bni-chgreifenber warb. Dazu kam in dieser sin 
keiibeu Zeit aus dem Gebiete ber Mythologie und 
des populären Glaubens durch allmählich ein- 
gedrungene ausländische, namentlich orientalische 
Culte und Mytheusysteme ein stets wachsender 
Aberglaube und ein verworrener Synkretismus, 
dessen unsaubere und bizarre Mythen den Vor¬ 
kämpfern des Christenthums Grund zu heftigen 
und erfolgreichen Angriffen boten. — Was die 
Wissenschaft der Mythologie in neuerer Zeit an¬ 
langt, so hat man im 17. und 18. Jahrhundert 
einerseits die Mythen auf Pragmatische Weife wie 
Geschichte behandelt, andererseits beurtheilte man 
bie Religion ber Alten von einseitigen Vorur¬ 
teilen aus unb sah in bersclben bald ein Vor¬ 
spiel, bald eine Verzerrung des Christenthums. 
Seit Anfang unseres Jahrhunderts herrschte län¬ 
gere Zeit in ber Mythologie durch den Einfluß 
einer bestimmten Richtung der Philosophie die 
Theorie von einem Urvolke im Oriente (Indien, 
Aegypten, Hochasien u. s. w.) vor, das eine reine 
Gotteserkenntniß gehabt habe. Von da sei dann 
diese Urweisheit durch Priester unter die rohen 
Völker der Erde und namentlich auch bei dem 
uncultiturteu Griechenvolke ausgebreitet worden 
und zwar wegen der unzulänglichen Bildung und 
Erkenntnißkraft der Völker in Form bes Mythos
	        
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