Full text: Für die Klasse V und IV (Teil 2 = Unterstufe, [Schülerband])

R. Schöner, Neapel. 
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Dagegen sind namentlich die ärmeren Volksquartiere am Hafen 
ausserordentlich eng, schmutzig, übervölkert und ungesund. Kaum 
ein Sonnenstrahl dringt in die engen Gassen mit den himmelhohen 
Häusern, immer feuchten Höfen und fensterlosen Wohnungen. Hier 
schlafen Eltern und Kinder, Gesunde und Kranke, oft auf blosser 
Erde und eng zusammengepfercht. Ein Glück ist es, dass ihnen das 
milde Klima gestattet, den Tag im Freien zu verbringen. Ein Glück 
ist es auch, dass bei der Fruchtbarkeit des Landes und der Billig¬ 
keit der Nahrungsmittel die armen, sehr genügsamen Leute für 
ihren Unterhalt nur weniger Pfennige bedürfen, die sie durch 
leichten Dienst, kleinen Handel oder durch Bettel erwerben. 
In der guten Jahreszeit gehen viele gewerbliche und häusliche 
Verrichtungen auf der Strasse vor sich. Schuhmacher, Schneider, 
Barbiere, Schmiede, Tischler, Drechsler, Mosaik- und Korallenarbeiter, 
Hutmacher, Stuhl- und Netzflechter haben ihre Sitze und Geräte vor 
die Thür gestellt und hantieren dort unter unaufhörlichem Geschwätz 
bis tief in die Nacht hinein. Auf den Balkönen sind Frauen und 
Mädchen mit häuslichen Arbeiten beschäftigt. Im Freien wird ge¬ 
kocht, gegessen und oft auch geschlafen. Lange Reihen von Tischen 
und Bänken, mit Fischen, Seetieren und Muscheln, mit Früchten, 
Gemüsen, Salat aller Art, mit Backwerk und Süßigkeiten, mit 
Maccaroni, Würsten, Käse und anderen Waren beladen, sind gleich¬ 
falls auf den Strassen und Plätzen zu finden. — Zahllose Verkäufer 
durchziehen ausserdem die Strassen, laut ihre Ware ausrufend und 
anpreisend. Durch wenige, dem Fremden unverständliche Worte 
oder durch Zeichensprache verständigen sie sich mit den Kunden 
auf den höchsten Balkönen, und mittelst eines Körbchens und Bind¬ 
fadens werden die Münzen gegen prächtigen Salat, Stücke roter oder 
gelber Melonen, Kastanien, Knoblauchketten, Trauben, Stockfische 
und Austern ausgetauscht. 
Es ist eine schwere Aufgabe, die grosse Stadt, welche bei einem 
Umfange von 15 Kilometern eine halbe Million Einwohner zählt, 
mit Lebensrnitteln zu versorgen. Von allen Seiten kommen deshalb 
am Morgen Karren, Wagen und Esel herbei, hochbepackt mit Früchten 
und Gemüsen aller Art. Meist sind diese Fruchtlasten zum Ergötzen 
für das Auge schön geordnet und mit Blumen besteckt, wie auch 
manche Lebensmittel Verkäufer ihre Ware gern mit Laubwerk und 
Blumen verzieren. 
Myrtenzweige werden vor den Kirchen auf die Strassen ge¬ 
streut, wenn ein Fest gefeiert wird, und grellfarbige Gehänge mit 
Goldborten sieht man oft an den Kirchenportalen. Mit Blumen¬ 
sträußen, Federbüschen, Fuchsschwänzen und Schellen werden die 
hebenden Pferdchen geschmückt, welche an Festtagen die geputzten 
Bürgerfamilien in sausendem Galopp über das glatte Lavapflaster 
Lesebuch für Realschulen nach preußischem Lehrplane. U. lü
	        
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