R. Schöner, Neapel.
241
Dagegen sind namentlich die ärmeren Volksquartiere am Hafen
ausserordentlich eng, schmutzig, übervölkert und ungesund. Kaum
ein Sonnenstrahl dringt in die engen Gassen mit den himmelhohen
Häusern, immer feuchten Höfen und fensterlosen Wohnungen. Hier
schlafen Eltern und Kinder, Gesunde und Kranke, oft auf blosser
Erde und eng zusammengepfercht. Ein Glück ist es, dass ihnen das
milde Klima gestattet, den Tag im Freien zu verbringen. Ein Glück
ist es auch, dass bei der Fruchtbarkeit des Landes und der Billig¬
keit der Nahrungsmittel die armen, sehr genügsamen Leute für
ihren Unterhalt nur weniger Pfennige bedürfen, die sie durch
leichten Dienst, kleinen Handel oder durch Bettel erwerben.
In der guten Jahreszeit gehen viele gewerbliche und häusliche
Verrichtungen auf der Strasse vor sich. Schuhmacher, Schneider,
Barbiere, Schmiede, Tischler, Drechsler, Mosaik- und Korallenarbeiter,
Hutmacher, Stuhl- und Netzflechter haben ihre Sitze und Geräte vor
die Thür gestellt und hantieren dort unter unaufhörlichem Geschwätz
bis tief in die Nacht hinein. Auf den Balkönen sind Frauen und
Mädchen mit häuslichen Arbeiten beschäftigt. Im Freien wird ge¬
kocht, gegessen und oft auch geschlafen. Lange Reihen von Tischen
und Bänken, mit Fischen, Seetieren und Muscheln, mit Früchten,
Gemüsen, Salat aller Art, mit Backwerk und Süßigkeiten, mit
Maccaroni, Würsten, Käse und anderen Waren beladen, sind gleich¬
falls auf den Strassen und Plätzen zu finden. — Zahllose Verkäufer
durchziehen ausserdem die Strassen, laut ihre Ware ausrufend und
anpreisend. Durch wenige, dem Fremden unverständliche Worte
oder durch Zeichensprache verständigen sie sich mit den Kunden
auf den höchsten Balkönen, und mittelst eines Körbchens und Bind¬
fadens werden die Münzen gegen prächtigen Salat, Stücke roter oder
gelber Melonen, Kastanien, Knoblauchketten, Trauben, Stockfische
und Austern ausgetauscht.
Es ist eine schwere Aufgabe, die grosse Stadt, welche bei einem
Umfange von 15 Kilometern eine halbe Million Einwohner zählt,
mit Lebensrnitteln zu versorgen. Von allen Seiten kommen deshalb
am Morgen Karren, Wagen und Esel herbei, hochbepackt mit Früchten
und Gemüsen aller Art. Meist sind diese Fruchtlasten zum Ergötzen
für das Auge schön geordnet und mit Blumen besteckt, wie auch
manche Lebensmittel Verkäufer ihre Ware gern mit Laubwerk und
Blumen verzieren.
Myrtenzweige werden vor den Kirchen auf die Strassen ge¬
streut, wenn ein Fest gefeiert wird, und grellfarbige Gehänge mit
Goldborten sieht man oft an den Kirchenportalen. Mit Blumen¬
sträußen, Federbüschen, Fuchsschwänzen und Schellen werden die
hebenden Pferdchen geschmückt, welche an Festtagen die geputzten
Bürgerfamilien in sausendem Galopp über das glatte Lavapflaster
Lesebuch für Realschulen nach preußischem Lehrplane. U. lü