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94. Die Weide und die Eiche.
Christoph von Lchmid.
Gesammelte Schriften. XVI. Bändchen. 2. Auflage. Augsburg. 1861. S. 49.
Eines Morgens nach einer furchtbar stürmischen Nacht
ging Vater Richard mit seinem Sohn Anselm auf das Feld
hinaus, um zu sehen, oh der Sturm Schaden angerichtet
habe. Der kleine Anselm rief: „Ei, sieh doch, Vater, die
große, starke Eiche hegt dort auf dem Boden, und die
schwache Weide hier am Bache steht noch schlank und
aufrecht da. Ich meinte doch, der Sturmwind wäre mit
der Weide leichter fertig geworden als mit der stolzen
Eiche, die bisher jedem Winde getrotzt hat.“ „Kind,“
sagte der Vater, „die starke Eiche mußte brechen, weil sie
sich nicht biegen konnte; die geschmeidige Weide aber
gab dem Sturme nach, und so konnte er ihr nichts
anhaben.“
95. Hab’ Dank, du lieber Wind!
Heinrich Hoffmann von Fallersleben.
Kinderlieber. Erste vollständige Ausgabe, besorgt durch Lionel von Donop.
Berliir. 1877. S. 195.
(Zuerst in: Fränzchcns Lieder. Lübeck. 1859. S. 81.]
1. Ich bin in den Garten gegangeh
und mag nicht wieder hinaus.
Die goldigen Äpfel prangen
mit ihren roten Wangen
und laden ein zum Schmaus.
2. Wie ist es anzufangen?
Sie sind mir zu hoch und fern.
Ich sehe sie hangen und prangen
und kann sie nicht erlangen
und hätte doch einen gern.
3. Da kommt der Wind aus dem Westen
und schüttelt den Baum geschwind
und weht herab von den Ästen
den allerschönsten und besten. —
Hab’ Dank, du lieber Wind!
1853.