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ein solches Ereignis nie erlebt hat, wird sich schwerlich von seiner Größe -
und Schrecklichkeit eine Vorstellung machen können.
Die rechte Zeit der Sturmfluten ist vom Oktober bis zum April. Aber
ruhig erwartet sie der Marschbewohner; weiß er doch, daß seine Deiche
hoch und stark genug sind, ihm sichern Schutz zu gewähren. Höchstens mag
ihm ein trüber Gedanke an die Mühen und Kosten der Deicharbeit kommen,
die wenige Stunden herbeiführen können.
So steht er, unbekümmert um den heulenden Sturm, auf der Kappe
des Deichs und schaut in ernstem Sinnen auf die wallenden Fluten, von
denen er genau weiß, wann sie an den Deich heranströmen werden.
Noch ist das Vorland trocken, noch sind die Fluten in ihrem Bett,
doch sieht man schon, wie sie toben, wie sie sich bäumen und die weißen
Zähne zeigen, als harrten sie voll Ungeduld der Stunde, da eine höhere
Macht ihnen das Zeichen zum Angriff gibt.
Jetzt nahen sie. Lauter und lauter wird das Brausen und Donnern.
Sie erreichen das Vorland, in kurzer Zeit ist es bedeckt und beut nun,
soweit das Auge reicht, nur eine einzige wilde Wasserwüste, deren Schaum¬
kämme blendend weiß gegen das trübe Grau der Wogen abstechen. Kein
Schiff ist weit und breit zu erspähen, alle sind vor dem Sturm in sichere
Buchten geflüchtet, und nur hier und dort kündet ein einsamer Weidenbaum,
der mit seinem nickenden, wild zerzausten Haupt aus den Fluten ragt, daß
da unter den wilden Wogen grünes, fruchtbares Land liegt.
Und noch immer höher schwillt das Gewässer; jetzt ist auch die Bärme,
der Fuß des Deiches, beflutet, endlich der Deich selbst, und es entsteht durch
seinen Widerstand eine furchtbare Brandung, ein wahrhaft majestätisches
Schauspiel. Mit zerstörender Gewalt schnaubt Woge an Woge an ihm
heulend auf; kaum wird die erste zurückgewiesen von seiner Schrägung, als
schon die nächste mit erneuter Wut heranrollt. Dazu steigt die Flut noch
mit jedem Augenblick. Hochauf bäumen sich die wilden Wasser und schauen
gierig über den Deich ins gesegnete Land, weit hinein ihren stäubenden
Schaum schleudernd, als ob sie der Anblick ihres alten Eigentums mit
doppelter Wut erfüllte.
Dazu der heulende Sturm, der des Himmels dunkle Regenwolken in
rasender Eile vor sich hinjagt; Scharen segelnder Möwen, die umsonst mit
dem Wind kämpfen, bis sie sich ermattet auf die geschützten Wiesen und
Äcker flüchten, und endlich hie und da ein Marschbewohner, der trotz Sturm¬
gewalt und Wogendrang sich mühsam längs des Deichs durch den spritzenden
Schaum hinarbeitet, um zu erspähen, ob ihm nicht die Fluten einen Balken
oder einige Bretter oder sonst eine Beute zutreiben: alles dies vereint, gibt
ein Bild von wilder Großartigkeit.
Doch der Marschbewohner blickt noch immer kalt und ruhig in den
Aufruhr. Hat nur der Deich hinreichende Höhe und Schrägung, so wird