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schüttelnd cm unb sprach: „Es kann nicht schaden, aber helfen wird es auch
nichts!" — Schweigend ging der Bürgermeister weg, um dem Ortsdiener
den Befehl zu geben, und bald hörte man durch das Fenster den Ruf:
„Wer dem verstorbenen Leinweber etwas schuldig ist, der soll sich sogleich
melden; das Landgericht ist da!" Es waren seitdem keine zehn Minuten ver¬
gangen, so kam eine Frau und brachte eine kleine Summe Geldes, und hinter
dieser noch eine, und hinter dieser ein armer Mann, und so fort, bis fast
sämmtliche Unvermögende des Ortes dagewesen waren und ihre Schuld
abgetragen hatten. Zuletzt kam ein armer Drehergeselle und legte ein mit
einem Bindfaden zugebundenes Päckchen Geld auf den Tisch, mit dem
Bemerken, der Verstorbene habe ihm das Geld gegeben, als er zum letzten
Male nach Haus gereist sei, mit der Bitte, es ihm aufzuheben, er wisse
nicht, wohin er es thun solle. Das Päckchen wurde geöffnet und enthielt
hundert Gulden in verschiedenen Münzsorten.
Was das Thun dieser guten Leute so schön machte, das überlasse ich
deinem Nachdenken, mein lieber Leser, ziehe mir aber für mich daraus die
Lehre: „Der Geist Gottes hört nicht auf, Zeugnis zu geben von seinem
kräftigen Wirken bei den Stillen im Lande."
Glaubrecht.
177. Der alte Landmann und sein Sohn.
1. Üb’ immer Treu' und Redlichkeit
bis au dein kühles Grab
und weiche keinen Finger breit
von Gottes Wegen ab!
Dann wirst du, wie auf grünen Aun,
durchs Erdenleben gehn,
dann kannst du sonder Furcht und Graun
dem Tod ins Auge sehn.
2. Dann wird die Sichel und der Pstug
in deiner Hand so leicht;
dann singest du beim Wasserkrug,
als wär’ dir Wein gereicht.
Dem Bösewicht wird alles schwer,
er thue, was er thu'.
Das Laster treibt ihn hin und her
und läßt ihm keine Ruh.
3. Der schöne Frühling lacht ihm nicht,
ihm lacht kein Ährenfeld;
er ist auf Lug und Trug erpicht
und wünscht sich nichts als Geld.
Der Wind im Hain, das Laub am Baum
saust ihm Entsetzen zu.
Er findet nach des Lebens Traum
im Grabe keine Ruh.
4. Sohn, übe Treu’ und Redlichkeit
bis au dein kühles Grab
und weiche keinen Finger breit
von Gottes Wegen ab!
Dann segnen Enkel deine Gruft
und weinen Thränen drauf,
und Sommerblumen voller Duft
blühn ans den Thränen auf.
Hölty.
178. Von Kleidern.
Wenn du einen Flecken an deinem Kleide oder irgendwo einen
Riss hast, denkst du oft: Pah, das sieht man nicht, und die Leute
haben andres zu thun, als immer alles an mir auszumustern. Du
gehst dann frank und frei herum, und es kann oft sein, du hast recht,
es sieht niemand den Flecken und den Riss.
Wenn du aber etwas Schönes auf dem Leihe hast, sei es nur
ein schönes Halstuch oder ein frisches Hemd mit weisser Brust, oder
gar eine goldene Nadel und dergleichen, da gehst du oft mit heraus¬
forderndem Blicke hinaus und schlägst die Augen nieder, um nicht
zu bemerken, wie alle Leute, was sie in den Händen haben,
stehen und liegen lassen und gar nichts thun, als deine Herrlichkeit