Full text: Neueste Geschichte von 1815 bis zur Gegenwart (Teil 3)

254 Die Lösung der deutschen Frage. 
d. Je mehr der Fortgang der nationalen Einheitsbewegung in Italien 
den weltlichen Besitzstand der Kurie bedrohte, um so energischer brachte Pius IX. 
seine geistliche Autorität zur Geltung. Die Enzyklika vom 8. Dezember 1864 
und der ihr angehängte Syllabus (Verzeichnis von 80 der schwersten „Irrlehren 
des Naturalismus") bedeuteten eine „Kriegserklärung gegen die Prinzipien der 
modernen Kultur und damit auch gegen die modernen Lehren vom Staate". 
c. Der Ausgang des Kampfes zwischen Österreich und Preußen, der 
die Führung der deutschen Geschicke einer protestantischen Macht über- 
lieferte, und die innerhab der deutschen Kirche an den Universitäten und 
in den Domkapiteln aufkommenden Regungen eines antipapalen Geistes 
trieben die Kurte ihrem letzten Ziele nur noch rascher entgegen. Am 
29. Juni 1868 berief die Bulle Aeterni patris ein allgemeines Konzil nach 
Rom, dessen Zweck einstweilen noch verschleiert ward. Die Zusammensetzung 
des Konzils war von vornherein auf die Durchführung der päpstlichen Absichten 
berechnet: auf die deutsche Kirche, deren sich die Kurie nicht sicher fühlte, 
entfielen nur 14 Stimmen. Trotz der nicht unbedeutenden Opposition (Bischof 
Ketteler von Mainz, Erzbischos Rauscher von Wien, Bischof Dupanlonp von 
Orleans u. a.) gelangte der Antrag der Kurie, daß der Papst in Glaubens- 
fachen als unfehlbar anzusehen sei, am 13. Juli 1870 zur Annahme. 
Anmerkung. In merkwürdigem Gegensatze zu der Verkündigung des Unfehl- 
barkeitsdogmas, das die päpstliche Gewalt in den Augen der Gläubigen über alle irdischen 
Gewalten erhöhte, stand der Verlust des letzten Teiles der weltlichen Macht des Papsttums. 
Der Krieg gegen Deutschland setzte Frankreich außerstande, die Unverletzbarkeit des 
Patrimoniums Petri fernerhin zu garantieren, und das Königreich Italien benützte diese 
Gelegenheit, sich der ewigen Stadt zu bemächtigen: am 20. September 1870 ging Rom 
der Herrschaft des Papstes verloren. 
<1. In Deutschland wurde das Jnsallibilitätsdogma nicht ohne Wider- 
spruch aufgenommen. Zwar erklärten die deutschen Bischöfe (mit Ausnahme 
des Bischofs Hefele von Rottenburg) in einem gemeinsamen Hirtenbriefe schon 
im September ihre Unterwerfung; aber an den Universitäten und unter den 
Religionslehrern der Gymnasien machte sich eine Gegenbewegung bemerkbar, 
die gegen die „Verfälschung" des alten, echten Katholizismus protestierte (Jgnaz 
von Döllinger in München, Gründung altkatholischer Gemeinden). Indes war 
der Einfluß der demokratisch-papal-kterikalen Strömung (vgl. § 7) im deutschen 
Katholizismus zu groß, als daß es zu einer allgemeinen Auflehnung gegen 
die päpstlichen Machtansprüche gekommen wäre. 
2. Die Ursachen des Kulturkampfes. 
a. In einem Staate, dessen Kern eine protestantische Großmacht 
war, die durch Jahrhunderte als die Vorkämpferin des Protestantismus 
gegolten hatte, mußte der innere Widerspruch zwischen der politischen Gewalt 
und der römisch-päpstlichen Ideenwelt um so mehr zum Ausbruche eines 
Konfliktes führen, als die Gesamtrichtung der deutschen Politik damals vor- 
nehmlich durch die Grundsätze liberalen Denkens bestimmt wurde. „Die 
Tendenzen, welche die katholische Kirche aus dem Mittelalter als die eigen- 
artigen gerade ihrer Ausgestaltung des Christentums mitgebracht hatte: Unter- 
ordnung der Persönlichkeit unter den für deren tiefste Bildung als maßgebend 
hingestellten Formalglauben der Kirche, Gehorsam in geistigen und geistlichen 
Dingen an Stelle subjektiv und frei gewonnener Überzeugung stritten mit der 
Weltanschauung der neueren und neuesten Zeit, die die Selbstverantwortlichkeit
	        
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