Rosegger.
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steigt die Angst um seine Waldlilie. Es ist ein schwaches,
zwölfjähriges Mädchen; es kennt zwar die Waldsteige und
Abgründe, aber die Steige verdeckt der Schnee, den Ab¬
grund die Finsternis. Endlich verläßt der Mann das Haus,
um sein Kind zu suchen. Stundenlang irrt und ruft er in
der sturmbewegten Wildnis; der Wind bläst ihm Augen
und Mund voll Schnee; seine ganze Kraft muß er an¬
strengen, um wieder zurück zur Hütte gelangen zu können.
Und nun vergehen zwei Tage; der Schneefall hält an,
die Hütte des Berthold wird fast verschneit. Sie trösten sich
überlaut, die Lili werde wohl bei dem Klausner sein. Diese
Hoffnung wird zunichte am dritten Tag, als der Berthold
nach einem stundenlangen Ringen im verschneiten Gelände
die Klause vermag zu erreichen. Lili sei vor drei Tagen
wohl bei dem Klausner gewesen und habe sich dann bei¬
zeiten wohl mit dem Milchtopf auf den Heimweg gemacht.
„So liegt meine Waldlilie im Schnee begraben", sagt der
Berthold. Dann geht er zu anderen Holzern und bittet,
wie diesen Mann kein Mensch noch so hat bitten gesehen,
daß man komme und ihm das tote Kind suchen helfe.
Am Abend desselben Tages haben sie die Waldlilie ge¬
sunden. Abseits in einer Waldschlucht, im finsteren, wild¬
verflochtenen Dickichte junger Fichten und Gezirme *), durch
das keine Schneeflocke vermag zu dringen, und über dem
die Schneelasten sich wölben und stauen, daß das junge Ge-
stämme darunter ächzt, in diesem Dickichte, auf den dürren
Fichtennadeln des Bodens, inmitten einer Rehsamilie von
sechs Köpfen ist die liebliche, blasse Waldlilie gesessen.
Es ist ein sehr wunderbares Ereignis. Das Kind hat
sich auf dem Rückweg in die Waldschlucht verirrt, und da
es die Schneemassen nicht mehr hat überwinden können, sich
zur Rast unter das trockene Dickicht verkrochen. Und da ist
es nicht lange allein geblieben. Kaum ihm die Augen an-
*) D. h. Knieholz, Legföhren, wie solche auf höheren
Almen wachsen, dort Zirm, Zerben genannt (Erklärung des
Verfassers.)
Hessel, Lesebuch 5. 10. Ausl.
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