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die viel begabtere, energischere und thätigere Nation der Flamänder
die Schelde zu ihrem Hauptstrom. Man kann in dieser Beziehung sagen,
daß ganz Belgien in zwei Hauptstücke zerfällt, in das Belgien der Maas
und in das der Schelde. Jenes entspricht dem wallonischen, dieses dem
flamändischen Belgien.
Der niederländische Volksstamm der Flamänder hat nun die Schelde¬
landschaften mit der schönsten Bodencultur, mit sehr dichter Bevölkerung
bedeckt, und an den Ufern ihrer Wasseradern die berühmtesten und volk¬
reichsten Centralpunkte der Cultur und Bevölkerung Belgiens angelegt.
Während an der Maas nur Namur und Lüttich als solche zu nennen
sind, finden wir dagegen im Gebiete der Schelde fast alle andern großen
Städte des Landes: Löwen, Brüssel, Mecheln, Antwerpen, Gent, Mons,
Kortryk, Doornik, und noch dazu in Frankreich in nächster Nachbarschaft:
Valenciennes, Arras, Douay und Lille.
Man begreift danach, welche Wichtigkeit und Bedeutung selbst die
kleinsten Zweige dieses Flußsystems gewinnen mußten, wie gleichsam jeder
kleine Faden dieses Flußgespinnstes kostbar und unschätzbar werden mußte.
Seine Fluthen circuliren, reinigend und durstlöschend, beständig durch hun¬
derttausend Haushaltungen jener reichen Städte: sie dienen zur Speisung
von hundert nützlichen Kanälen in den Städten und zur Verbindung der
Länder; an jeden Faden heften sich Tausende von werthvollen Aeckern,
die aus ihm Lebenskraft und Reichthum beziehen. Und alle Wellen dieses
kleinen Flusses thun also mehr Arbeit und Werk, spenden mehr Reichthum
und Fülle umher, als viele andere große Ströme, welche thatenlos unbe¬
wohnte Wüsten durcheilen.
Schon diese angeführten Verhältnisse hätten hingereicht, den Schelde¬
gewässern eine sehr hohe Bedeutung zu geben. Mehr aber als alles Andere
trug die Beschaffenheit des Mündungsstückes des Flusses zur Erhöhung
dieser Bedeutung bei. Obwohl so klein, erlangt doch die Schelde schon
bei Antwerpen eine so große Breite, Tiefe und Wasserfülle, wie sie ge¬
wöhnlich nur großen Strömen eigen zu sein pflegen Zur Fluthzeit ist sie
schon bei Antwerpen 40—45 Fuß tief und besitzt dabei eine Breite von
1000 Ellen, die sich allmälig nach dem Meere zu in beständiger Steige¬
rung meerbusenartig erweitert. Von dem genannten Punkte an hat also
die Schelde beinahe das Ansehen, die Beschaffenheit und Brauchbarkeit
eines Meerbusens. So wie die Hälfte ihres Gebietes Delta ist, so ge¬
stattet ein Drittel ihres ganzen Laufes Meeresschiffsahrt. Die Meeres¬
strömungen und Fluthen, welche in die Mündungen des Flusses eindringen,
mögen hier das Flußwasser so aufgestauet und auch selbst bei Ebbe und
Fluth so breit um sich gegriffen haben, daß daraus diese großartigen Pro¬
portionen hervorgegangen sind. Von der Schelde aus weithin nach Süd¬
westen giebt es keinen Punkt, der zugleich so tief im Innern des Landes
läge und von dem aus so bequeme Seeschifffahrt so gut möglich wäre, wie
Antwerpen. Und auch im Nordosten sind die Fahrzeuge des Rheins