Zehn Lesestücke aus der geographischen Literatur.
1. Die Einheit des Menschengeschlechts. — Die menschlichen
Genossenschaften.
Von Hermann Wagner („Lehrbuch der Geographie", I. Band, 8. Aufl.,
Hannover 1908).
Große Gegensätze treten uns im Bereiche der Menschenwelt noch heute ent-
gegen. Nach körperlichem Bau Schwankungen in der Höhe des Wuchses, des Eben-
maßes der Glieder, der Gesichtszüge, der Farbe der Haut und der Haare; neben
körperlich kräftigen ausdauernden Menschenschlägen solche, die, in andere Klimate
verpslanzt oder zu härterer Arbeit herangezogen, rasch dahinsiechen. Schärfer noch
prägen sich die Unterschiede in Lebensweise und Gesittung aus. Neben den Völkern,
die auf mehrtausendjährige Kulturarbeit zurückblicken und, Erfahrungen auf Er¬
fahrungen häufend, sich die Kräfte der Natur bis zu einem gewissen Grade Untertan
zu machen wußten, leben oft in unmittelbarer Nähe Stämme, die kaum die ersten
Schritte einer wirtschaftlichen, sie von den freiwilligen Gaben der Natur unabhängig
machenden Entwicklung hinter sich haben. Neben Nationen, die in kraftvoller poli-
tischer Geschlossenheit sich dauernd zu Herrschern über weite Gebiete aufgeschwungen
haben, gibt es auch heute noch zerstreute Horden ohne allen Zusammenhang.
Vor einem Menschenalter und mehr haben diese Gegensätze das Bewußtsein
unseres Kulturkreises beherrscht. Viele ließen darüber das allen Menschen ohne
Unterschied der Rasse gemeinsame Erbteil, vernunftbegabtes und einer höheren
Entwicklung fähiges Wesen zu sein, außer acht und gingen von der Annahme aus,
es zersalle das Geschlecht in eine Reihe scharf gesonderter Arten, von denen manche
dem Tiere näher ständen als andere. Der Sieg der Entwicklungslehre, die Erkennt-
nis, daß eine jegliche Vermischung von Menschen verschiedener Rasse sich dauernd
zu erhalten und fortzupflanzen vermag, die liebevollere Versenkung der Ethnographen
in Leben und Wesen, Anschauungen und Sitten vieler Naturvölker schuf Wandel in
diesem Punkte. Heute hat die Ansicht, daß die verschiedenen Erscheinungsformen,
in denen die Menschengruppen sich auf der Erde bewegen, aus einer Wurzel hervor-
gegangen sind, wieder Geltung. DieEinheitdesMenschengeschlechts
ist wieder ein Glied in der herrschenden Weltanschauung
unserer Tage.
Tas Grundelement der mannigfaltigen Genossenschaften, zu denen der Mensch
als geselliges Lebewesen sich vereinigt, ist die F a m i l i e. Im engeren Sinne des
Wortes begreift sie nur Eltern und Kinder: Sonderfamilie; im weiteren erstreckt
sie sich bei verschiedenen Völkern — wir nennen die Römer im Altertum und die
heutigen Chinesen— auf mehrere Generationen und kettet auch die Frauen der Söhne
mit ihren Nachkommen zu einer Genossenschaft zusammen: Großfamilie. Zu
einer Sippe (Zeus) vereinigt der Gebrauch einzelner Völker — freilich in sehr
Lesestücke.