Und kann der Bewohner der Flecken und Städte, der Gebildete, der
Handelsmann das Gebirge missen? Der Arzt muß seine Hülfe, der Priester
den Trost der Religion hinaufbringen in entlegene Hütten, hinter Wasser-
stürzen und Gletschern; und der Verkehrsmann, sei es der Spitzen- und Schnitt-
waareuhändler aus Vorarlberg und dem Lechthale, der Handschuh- und Teppich¬
oerkäufer aus dem Ziller-Thale, der Groedener mit Schnitzwaaren, der
Viehhändler aus Passeier oder der Wein- und Fruchthändler aus den geseg¬
neten Etschgauen — sie alle ziehen über die Alpenpässe, aus einem Thal in's
andere, vorüber an den gehörnten und gletscherbepanzerten Bergriesen, die in
vielfachem Wechsel von Kleid und Miene sich ihrem Blicke darstellen, bald
in der blendenden Hülle des Winters, bald im lachenden bunten Frühlings¬
kleide, bald von stürmenden Wolken umsaust, bald wieder von Regenstrichen
gepeitscht oder von Blitzen umzuckt, gestern von dicken Nebeln umzogen, heute
vom Glanze der scheidenden Sonne verklärt. In der That, man erlebt bei
Dem Uebergange über solche Höhen an einem Tage mehr, als in der Ebene
oft in einem ganzen Jahre.
Mit dieser Natur von Jugend auf verwachsen, zwar mit Mühe und
Gefahr, gleichwohl in hinreichendem, ja öfters sogar reichlichem Maße ihr die
Erzeugnisse abgewinnend, die sie ihm doppelt werthvoll machen, sollte nicht
der Bewohner der Alpen vorzugsweise von lebendiger Liebe zur Heimat
erfüllt werden? So ist es. Er bleibt damit erfüllt, auch wenn seine Ge¬
wandtheit in der Ferne Behaglichkeit und Glück des Lebens ihm erwirbt.
Zurückgekehrt mit Reichthümern, wird er unmerklich von der Alpennatur der¬
maßen wieder gefesselt, daß er sich, trotz jener, der einfachen, alpinischen
Lebensweise und den alten Gewohnheiten der Väter wieder zuwendet, fremde
Bedürfnisse und fremde Weise alsbald ablegend.
Viele gewöhnliche Geschäfte, bei deren Verrichtung der Bewohner des
Flachlandes wenig oder gar nichts von Mühe verspürt, sind für den Aelpler
nicht nur höchst anstrengend, sondern bisweilen ebenso gefährlich, als in dem
Erfolge unsicher. Jahre hat er auf die Urbarmachung seiner Wiesen und
seines Ackers an des Berges Abhange verwendet; ein einziger Gewitterguß
vernichtet schonungslos diese Mühe, die Felder fußhoch mit Steingetrümmer
überschüttend. Des Lebens Nothdurft spornt ihn an, auf's Neue an's Werk
zu gehen, die Steine weg oder in die Tiefe und die Fruchterde obenauf zu
bringen, bis sein Feld wieder hergestellt ist; und doch befindet er sich jetzt in
demselben Zustande der bangen Ungewißheit, ob nicht schon in den nächsten
Tagen das Werk unsäglicher Anstrengungen aufs Neue vernichtet sein werde.
Da ist also seine Besitzesstätte eine fortwährende Kampfes- und Uebungs-
ftätte zu Ausdauer, Unverdrossenheit, Genügsamkeit und Gott¬
vertrauen.
Aber religiöser Sinn wird noch durch Anderes geweckt. Er sammelt
hoch oben am steilen Abhange eine Kütze Gras für den Wintervorrath; er
kann hierbei den Tod sich holen. Er macht einen Weg nur von einem Dorfe
zum andern, aber über ein Bergjoch, und auf diesem kann er von Verderben
bringenden Wettern überrascht oder, bei Schneegestöber, Sturm und Nebel¬
regen den unkenntlich gewordenen Pfad verfehlend, einem furchtbaren Grabe
in der Tiefe der jähen Wand zugeschleudert werden. Solche Gefahren mahnen
doppelt an Den dort oben, der über Sonnenschein und Sturmesbrausen ge¬
bietet, und so findet sich der Alpenbewohner vor Beginn des Geschäfts oder
der Reise mit seinem Schöpfer ab. Gar oft kann man unten am Fuße des