Full text: Historisch-geographischer Atlas der Alten Welt

Allgemeine Ein leitun 
Entwickelung geographischer Kenntnisse hei den 
Alten. 
§. 1. Da die in vorliegendem Atlas in Karten darge¬ 
stellte vergleichende oder historische Geographie, welche uns 
den Zustand der Lander und ihrer Bewohner für gewisse 
historische Perioden kennen lehrt, eine positive, auf bestimmt 
überlieferte Facta gegründete Wissenschaft ist, und als solche 
auf einer möglichst genauen Kenntniss des heutigen Zustandes 
derselben Theile der Erde beruht, so schliesst sie mit Recht 
die sogenannte mythische Geographie aus, d. h. die 
Kenntniss derjenigen Vorstellungen, welche einzelne Völker 
auf niedrigerem Standpunkte der Bildung und mit engerem 
Gesichtskreise, wie die meisten orientalischen und die Grie¬ 
chen in ihrer früheren Zeit, sich von der Beschaffenheit und 
Lage der Erde und ihrer Theile bildeten und dabei das Un¬ 
bekannte oder nur mangelhaft Erkannte mit dichterischer 
Phantasie ausfüllten. Wichtiger für uns waren schon die po¬ 
sitiven Kenntnisse, welche seefahrende Völker, wie die Pho— 
nicier, von einzelnen Küsten und Inseln sich auf Wegen des 
Handels erwarben, wenn sie uns nur vollständig genug über¬ 
liefert wären, um sic uns anschaulich zu machen. 
§. 3. Erst im fünften Jahrh. v. Chr., hei den hellenischen 
Logographen, welche, wenn auch noch unkritisch, Erzählungen 
von See- und Landreisenden und benachbarten Handelsvölkern 
sammelten, zuerst bei Iiecatäus und namentlich hei Hero- 
dotus, finden wir (gleichzeitig mit der ältesten Erwähnung 
von Erdkarten, Herod. V. 49.) hinreichend vollständige Nach¬ 
richten über eine zusammenhängende Menge von Ländern und 
Orten und Erläuterungen über die Vorstellungen, welche jene 
Zeit sich über die Gestalt der ganzen Erde und das Verhältniss 
der Lage ihrer Theile machte, um uns danach ein einiger- 
niassen deutliches Bild zu entwerfen, wie es nach Anleitung 
speciellerer Versuche *) in kleinerem Maasstabe auf Taf. I. 
dieses Atlas zu finden ist. Nach damaliger Gewohnheit der 
Griechen bezeichnet Herodot mit dem Namen Europa die 
ganze Nordhälfte der Erde, d. i. unser Europa und Nordasien, 
oberhalb des Phasis und des Caspischen Meeres (entsprechend 
dem homerischen nycs und betrachtet Asia und L i- 
bya, welche der Nil von einander scheidet, als zusammen¬ 
gehörige Theile der kleineren Siidhälfte (bei Homer n(tog ijiS 
»¡¿Ai.oj'rs). Sein Ostasien, welches wenig über den Indus hin¬ 
ausreicht, ist ihm nur sehr unvollkommen aus persischen Be¬ 
richten bekannt, ebenso der Süden der Erde aus ägyptischen, 
cyrenäischen und carthagischen, und der Norden aus denen 
der pontischen Griechen; das westliche Europa war, wie aus 
der Verbreitung griechischer Colonien und den Nachrichten 
bei Hecatäus hervorgeht, damals schon besser bekannt, als 
es nach den wenigen Andeutungen bei Herodot scheinen 
könnte, der nur selten Gelegenheit hatte, desselben in seinem 
*) Vcrgl. Niebulir’s kleine Schriften (über Herodot’s Geographie) und 
Ckert’s Geographie der Griechen und Körner, Th. I. 
Werke zu erwähnen; überdiess wurden die Atlantischen Küsten 
gegen Süden, in Alrica , um dieselbe Zeit durch den Kartha¬ 
ger Hanno, und gegen Norden, in Europa, ein Jahrhundert 
später durch den Massiiier Pytheas zuerst erforscht. 
3. Ungleich grösser wurde aber der Umfang der grie¬ 
chischen Länderkunde namentlich im Osten und Süden durch 
Alexanders Feldzüge und die in deren Folge im Orient 
sich bildenden griechischen Reiche und Coloniestädte; nament¬ 
lich trugen hierzu bei die Seleucidcn (durch Kriege im nörd¬ 
lichen Indien) und die Lagiden oder Ptolemäer (durch Ent¬ 
deckungen an der Küste Arabiens und Africa’s); die Ausmes¬ 
sung der von den macedonisehen Heeren zurückgelegten Wege 
durch Ingenieure (ßquaTiOTcd), sowie die unvollkommenen 
Beobachtungen der geographischen Breite mittelst des mittäg¬ 
lichen Schattens gaben schon festere Grundlagen für die Con- 
struction von Karten (Erdkarten des Dicäarchus von Messana, 
310 v. Chr.) 
4. Auf solche Beobachtungen gestützt und von der 
richtigen Ansicht der Kugelform der Erde (deren Umfang zu 
250,000 Stadien = 6250 Meilen berechnet) ausgehend, konnte 
Eratosthenes zu Alexandria (um 270 v. Chr.) ein voll¬ 
ständigeres System der Geographie aufstellen und durch eine 
Menge wirklich gemachter Messungen beglaubigen, nach 
denen es möglich ist, die Karte der Erde, wie er sie vor 
Augen hatte, mit ziemlicher Sicherheit wiederherzustellen; 
das östliche und nördliche Asien, nördliche Europa und west¬ 
liche und südliche Africa, wie wir es kennen, fehlen auch 
hier noch völlig in der Kenntniss der Griechen; auffallend ist 
bei ihm besonders die Annahme einer Verbindung des Caspi¬ 
schen Meeres (das schon Herodot richtig als Binnensee kannte) 
mit dem arktischen Ocean (Eismeer); letztere entstand in¬ 
dessen wahrscheinlich aus unbestimmten Sagen über die Spuren 
einer solchen Wasserverbiudung, die noch jetzt in den tiefen 
Saudwüsten mit zahlreichen Salzseen, nördlich und östlieh 
vom Caspischen Meere, die Wirklichkeit eines ehemaligen 
Meeresstandes beweisen *). Um diese Zeit gilt auch schon 
der Tanais (Don) als Gränzfluss zwischen den Flachländern 
des nördlichen Europa’s und Asiens. 
(§». 5. Um ein Bedeutendes weiter ausgedehnt wurde in 
späterer Zeit die positive Erdkunde durch die von demTyrier 
Marinus (um 150 v. Chr.) gesammelten und verarbeiteten 
Materialien über die entfernteren Süd- und Oslgegenden der 
Erde; während durch Erweiterung der Römischen Herrschaft 
im westlichen Europa auch dieses bekannter wurde, wovon 
die Resultate in dem geographischen Werke S trab o’s (um 
20 n. Chr.) mitgctheilt werden. Sehr wichtig für Construction 
richtigerer Karten wurden namentlich die seit Augustus ange- 
stellten Vermessungen aller Strassen des Römischen Reiches **) 
*) Verüb Taf. II, wo die ungefähren Gränzen dieser alten Meeres- 
bederkung nach A. v. Humbotdt’s Forschungen angegeben sind. 
**) Spätere und allmühlig vervollständigte Redaction dieser Strassen- 
karten in der sogenannten Peutingerschen Tafel, deren verlorenes Origi¬ 
nal um 230 n. Chr. redigirt ist; und in bloss schriftlicher Aufzeichnung 
im sog. Itinerarium Antonini und Hierosolymitanum aus dem 4. Jahrh. 
g- 
und die für Schifffahrtszwecke bearbeiteten ausführlicheren 
Küstenbesclireibungen (jitQmloi) des Mittelmeeres und des 
Pontus. 
ß. Alle diese Quellen, sowie römische Berichte 
über Feldzüge und Handelsreisen in Africa, Germanien, Sar- 
matien, und Nachrichten vorzüglich griechischer Kaufleute 
und Schiffer über die südlichen und östlichen Gegenden wur¬ 
den um 120 n. Chr. vom Alexandriner Ptolomaeus zu einer 
Berichtigung und Erweiterung des Systems und der Karten 
des Marinus benutzt, und-in seinem grossen geographischen 
Werke die theils durch astronomische Beobachtung bestimm¬ 
ten Breiten, theils aus den Reisewegen und Schillsnachrichten 
berechneten Breiten und Längen (bei Annahme des Erd¬ 
umfangs zu 180,000 Stadien = 4,500 Meilen) nach Graden 
festgelegt , so dass eine nach diesen Gradangaben construirte 
Zeichnung (wovon auf Taf. I. ein Umriss in kleinem Maas¬ 
stab gegeben ist) uns die Kenntniss, welche die Alten zu 
Trajan’s Zeit von der Erde und den Einzelnheiten der Orts¬ 
lagen hatten, mit ziemlicher Genauigkeit giebt und zugleich 
den äussersten Umfang ihrer Erdkunde überhaupt bezeichnet, 
da die folgenden Jahrhunderte zu deren Erweiterung fast 
nichts beigetragen haben, was auf unsere Zeiten gekommen 
wäre. Dass dabei auch noch für die entfernteren Gegenden 
vorgefasste, auf keinen positiven Angaben beruhende Ansichten 
eine Rolle spielten, zeigt z. B. die Schliessung des Indischen 
Oceans im Süden durch ein dort angenommenes Land (nach 
der schon von Hipparchus um 140 v. Chr. aufgestellten Hy¬ 
pothese) , und die gerade nordsüdliche Richtung , welche der 
Westküste von Africa gegeben wurde. 
Ethnographische Übersicht. 
S. Von den verschiedenen Völkermassen, welche 
die alte Welt bevölkert haben, tritt nur die weisse (ge¬ 
wöhnlich unrichtig Kaukasische genannte) Rasse auf dem 
Schauplatz der Geschichte und der höheren Cultur auf; ihr 
gehören alle Staaten an, deren die Geschichte der classischen 
Völker Erwähnung thut. Bekannt wurde diesen ausserdem 
noch in ziemlich früher Zeit (zunächst durch Sklavenhandel) 
die schwarze oder Neger-Rasse im tropischen Africa, 
wahrscheinlich auch einzelne Theile der dunkelfarbigen Ma¬ 
laiischen Rasse, der viele Stämme des südlichen Indiens 
(Dekhan’s) angehörten. Die gelbe (fälschlich sogenannte 
Mongolische) Rasse, die schon in uralter Zeit bedeutende 
und civilisirte Staaten in China und Hinterindien bildete, 
andererseits im Norden sich in zahlreichen Wanderstämmen 
(Mongolen, Türken, Hunnen, Finnen etc.) über die grossen 
Flachländer Innerasiens bis zu den Gestaden Nordeuropa’s 
ausdehnte, ist den classischen Völkern in ihrer Bliithezeit nie 
bekannt geworden. Ihr erstes Auftreten an der Gränze euro¬ 
päischer Cultur bezeichnet die Einwanderung der Hunnen im 
3.—4. Jahrh. v. Chr.; alle früher in Osteuropa und dem in¬ 
neren Westasien unter den Namen von Skythen, Salten, Aor- 
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