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Geschichte.
Kreml, die Burg derCzare, mitten in diesem Walde von Gebäu¬
den und Pflanzungen empor. „Da ist denn endlich die berühmte
Stadt!" rief Napoleon und setzte seine Kriegsschaaren in Bewe¬
gung. Aber wie erstaunte er, als ihm beim Einzuge Niemand
von der Stadtobrigkeit entgegen kam. Eine schauerliche Grabes¬
stille lag über der ungeheuren Stadt. Die Straßen waren öde,
Me Thüren verrammt, die Fenster durch Läden geschlossen,
Gewölbe und Buden gesperrt und verriegelt.
Schon in der folgenden Nacht stiegen an mehreren Stellen
der Stadt lichte Flammen auf. Alle Werkzeuge zum Löschen hatte
der Befehlshaber Rostopschin fortgeführt, die gefangenen Ver¬
brecher losgelassen und ihnen die Stadt anzuzünden geboten. In
den folgenden Tagen verbreitete sich der Brand, da ein heftiger
Sturm entstand, über die ganze Stadt. „Entsetzlicher Anblick!"
rief Napoleon, „das haben sie selbst gethan! welche Menschen!"
Mit Mühe und Gefahr rettete er sich aus dem Feuermeere. Erst
nach sechs Tagen verminderte sich das Feuer. Da gab er seinen
Soldaten die Erlaubniß zur Plünderung, und diese bereicherten
sich mit allerlei Schätzen, welche sie in den Kellern verborgen
fanden. Während die Sieger Gold, Silber und andere Kostbar¬
keiten in Fülle hatten, fehlte es ihnen aber bald an — Brot.
Als Alexander alle Friedensanträge verwarf, trat Napoleon,
von der äußersten Noth gedrungen, den Rückzug an, und zwar
auf demselben Wege, den er gekommen war. Aber welch ein
Rückzug! Kein Beispiel solcher Gräßlichkeit zeigt uns die
Geschichte. Ein ungewöhnlich früher und strenger Winter kam
heran und überraschte die verhungerten Franzosen ans ihrem
kläglichen Zuge. Menschen und Thiere sanken vor Kälte und
Erschöpfung dahin, und wie mit einem Leichentuche bedeckte der
Schnee die gefallenen Opfer. Jeder Tag lieferte Tausende von
Gefangenen in die Hände der Russen; Tausende von Nachzüglern
sielen unter den Lanzen der Kosaken, unter den Keulen der
ergrimmten Bauern. Bei dem Uebergange über die Bere-
sina verlor Napoleon 30,000 Mann. Als er seine hoffnungs¬
lose Lage sah, verließ er das Heer und eilte in einem elenden
Schlitten nach Wilna, von da über Warschau und Dres¬
den nach Paris. Den Oberbefehl überließ er dem Könige von
Neapel. Seitdem wich alle Zucht und Ordnung, und das Elend
der Franzosen überstieg alle Vorstellung; die fürchterliche Kälte,
der Mangel an Nahrung und warmer Bekleidung richtete das
Heer vollends zu Grunde. Nur wenige sahen ihr Vaterland wie¬
der. Im folgenden Jahre wurden in Rußland, nachdem der Schnee
abgethaut war, 243,000 französische Leichname verscharrt oder
verbrannt, und allein in Wilna 70,000 beerdigt.