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61. Zustand der Künste und Wissenschaften.
Sobald der Mensch der Sorge für die nöthigsten Bedürf¬
nisse des Lebens überhoben ist, so erwacht auch allmälig sein
natürliches Gefühl für das Schöne, sein Gefallen an höheren
geistigen Verrichtungen, die das Leben erheitern und veredeln.
Unter diesen stand im Mittelalter die Dichtkunst oben an
und wurde vorzüglich vom Adel gepflegt. Sie war ihm eine
süße Erholung von den ernsten Sorgen des Tages, von dem
wilden Getümmel der Schlachten. Auf die Entwickelung dieser
schönen Kunst hatten die Kreuzzüge den wirksamsten Einfluß.
In dem fernen Morgenlande wurde der Kreuzfahrer durch die
seltsamsten Erscheinungen wunderbar überrascht. Die heiligen
Orte, wo einst der Erlöser wandelte, die Pracht und der Reich¬
thum des Orients, die wunderbaren Irrfahrten frommer Pilger,
die vielen Abenteuer der Ritter, dann auch die Sehnsucht nach
den theuren Zurückgebliebenen, dieses und manches andere regte
mächtig den Geist auf und bot zu Dichtungen den reichhaltigsten
Stoff. Wahre Begebenheiten wußte die aufgeregte Einbildungs¬
kraft mit reizenden Mährchen aller Art auszuschmücken.
Die Minnesänger. — In den unmuthigen Thälern des
südlichen Frankreichs und Spaniens, wo die Einbildungskraft der
Bewohner feurig ist, wie der Himmel, unter welchem sie leben,
trieb die Dichtkunst ihre ersten Blüthen. Man nannte den
Dichter Troubadour, weil er Erfinder einer besonderen Ge¬
sangweise war?) Und weil der Gesang vorzüglich in der fran¬
zösischen Provence ertönte, so nannte man diese Dichtkunst auch
wohl die proven?alische. Aus den Burgen der Ritter, bei
fröhlichen Festen und Mahlen erschien der Sänger mit der lieb¬
lich klingenden Harfe in der Hand. Ritter und Damen begrüßten
mit stiller Freude den lieben Gast und hörten seinen gefühlvollen
Gesängen zum Klange der Harfe zu. Wie Frankreich seine Trou-
') Von dem franz. Worte trouver, erfinden.