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275. Der kluge Richter.
Ein reicher Mann hatte eine beträchtliche Geldsumme, die in ein
Tuch eingenäht war, aus Unvorsichtigkeit verloren. Er machte daher
seinen Verlust bekannt und bot, wie man das zu tun pflegt, dem
ehrlichen Finder eine Belohnung, und zwar von hundert Talern an.
Da kam bald ein guter und ehrlicher Mann dahergegangen. „Dein Geld
habe ich gefunden. Dies wird's wohl sein! So nimm dein Eigentum
zurück!“ So sprach er mit dem heiteren Blick eines ehrlichen Mannes
und eines guten Gewissens, und das war schön. Der andere machte auch
ein fröhliches Gesicht, aber nur, weil er sein verloren geschätztes Geld
wieder hatte. Denn wie es um seine Ehrlichkeit aussah, das wird sich
bald zeigen. Er zählte das Geld und dachte unterdessen geschwind nach,
wie er den treuen Finder um seine versprochene Belohnung bringen könnte.
„Guter Freund,“ sprach er hierauf, „es waren eigentlich achthundert
Taler in dem Tuch eingenäht. Ich finde aber nur noch siebenhundert
Taler, Ihr werdet also wohl eine Naht aufgetrennt und Eure hundert
Taler Belohnung schon herausgenommen haben. Da habt Ihr wohl
daran getan. Ich danke Euch.“ Das war nicht schön. Aber wir sind
auch noch nicht am Ende. Ehrlich währt am längsten, und Unrecht
schlägt seinen eigenen Herrn. Der ehrliche Finder, dem es weniger um
die hundert Taler als um seine unbescholtene Rechtschaffenheit zu tun
war, versicherte, daß er das Päcklein so gefunden habe, wie er's bringe,
und es so bringe, wie er's gefunden habe. Am Ende kamen sie vor den
Richter. Beide bestunden auch hier noch auf ihrer Behauptung, der eine,
daß achthundert Taler seien eingenäht gewesen, der andere, daß er
von dem Gefundenen nichts genommen und das Päcklein nicht versehrt
habe. Da war guter Rat teuer. Aber der kluge Richter, der die Ehrlichkeit
des einen und die schlechte Gesinnung des andern zum voraus zu kennen
schien, griff die Sache so an: er ließ sich von beiden über das, was
sie aussagten, eine feste und feierliche Versicherung geben und tat hierauf
folgenden Ausspruch: „Demnach, wenn der eine von euch achthundert
Taler verloren, der andere aber nur ein Päcklein mit siebenhundert
Talern gefunden hat, so kann auch das Geld des einen nicht das nämliche
sein, auf das der andere ein Recht hat. Du, ehrlicher Freund, nimmst
also das Geld, das du gefunden hast, wieder zurück und behältst es
in guter Verwahrung, bis der kommt, der nur siebenhundert Taler
verloren hat. Und dir da weiß ich keinen Rat, als du geduldest dich,
bis der sich meldet, der deine achthundert Taler findet.“ So sprach der
Richter, und dabei blieb es.
Johann Peter Bebel.
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