Full text: [Teil 1, [Schülerbd.]] (Teil 1, [Schülerbd.])

255 — 
275. Der kluge Richter. 
Ein reicher Mann hatte eine beträchtliche Geldsumme, die in ein 
Tuch eingenäht war, aus Unvorsichtigkeit verloren. Er machte daher 
seinen Verlust bekannt und bot, wie man das zu tun pflegt, dem 
ehrlichen Finder eine Belohnung, und zwar von hundert Talern an. 
Da kam bald ein guter und ehrlicher Mann dahergegangen. „Dein Geld 
habe ich gefunden. Dies wird's wohl sein! So nimm dein Eigentum 
zurück!“ So sprach er mit dem heiteren Blick eines ehrlichen Mannes 
und eines guten Gewissens, und das war schön. Der andere machte auch 
ein fröhliches Gesicht, aber nur, weil er sein verloren geschätztes Geld 
wieder hatte. Denn wie es um seine Ehrlichkeit aussah, das wird sich 
bald zeigen. Er zählte das Geld und dachte unterdessen geschwind nach, 
wie er den treuen Finder um seine versprochene Belohnung bringen könnte. 
„Guter Freund,“ sprach er hierauf, „es waren eigentlich achthundert 
Taler in dem Tuch eingenäht. Ich finde aber nur noch siebenhundert 
Taler, Ihr werdet also wohl eine Naht aufgetrennt und Eure hundert 
Taler Belohnung schon herausgenommen haben. Da habt Ihr wohl 
daran getan. Ich danke Euch.“ Das war nicht schön. Aber wir sind 
auch noch nicht am Ende. Ehrlich währt am längsten, und Unrecht 
schlägt seinen eigenen Herrn. Der ehrliche Finder, dem es weniger um 
die hundert Taler als um seine unbescholtene Rechtschaffenheit zu tun 
war, versicherte, daß er das Päcklein so gefunden habe, wie er's bringe, 
und es so bringe, wie er's gefunden habe. Am Ende kamen sie vor den 
Richter. Beide bestunden auch hier noch auf ihrer Behauptung, der eine, 
daß achthundert Taler seien eingenäht gewesen, der andere, daß er 
von dem Gefundenen nichts genommen und das Päcklein nicht versehrt 
habe. Da war guter Rat teuer. Aber der kluge Richter, der die Ehrlichkeit 
des einen und die schlechte Gesinnung des andern zum voraus zu kennen 
schien, griff die Sache so an: er ließ sich von beiden über das, was 
sie aussagten, eine feste und feierliche Versicherung geben und tat hierauf 
folgenden Ausspruch: „Demnach, wenn der eine von euch achthundert 
Taler verloren, der andere aber nur ein Päcklein mit siebenhundert 
Talern gefunden hat, so kann auch das Geld des einen nicht das nämliche 
sein, auf das der andere ein Recht hat. Du, ehrlicher Freund, nimmst 
also das Geld, das du gefunden hast, wieder zurück und behältst es 
in guter Verwahrung, bis der kommt, der nur siebenhundert Taler 
verloren hat. Und dir da weiß ich keinen Rat, als du geduldest dich, 
bis der sich meldet, der deine achthundert Taler findet.“ So sprach der 
Richter, und dabei blieb es. 
Johann Peter Bebel. 
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