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Musterbeispiele deutscher Prosa.
Umstände mit äußerlichen Umständen, irdische Vorteile mit irdischen
Vorteilen. Wir fragen nicht, ob ein Taglöhner, der den Herrn fürchtet
und nichts mehr begehrt, als was ihm der Wille des Höchsten be—
schieden, glücklicher sei als ein Gewaltiger und Reicher, der sich nie
mit seinen Begierden versöhnen kann, und mehr von der Liebe seines
vermeinten Gutes, als des Höchsten entzündet ist! Diese Frage ist
unter allen, die ihrer Vernunft mächtig sind, entschieden. Wir fragen
nur: ob ein Armer, in so weit als er ein Armer ist, ob ein Niedriger,
in so weit als er ein Niedriger ist, ob ein Mühseliger, in so fern er
mühselig ist, wenn er sonst am Leibe und Geiste gesund ist, unglück—
licher und elender sei, als ein Reicher, Hoher und in Wollust und
Ruͤhe Lebender. Der Reiche und Gewaltige zweifelt nicht, diese Frage
sei eben so klar entschieden, wie die erstere. Daher blähet er sich, und
vergisset sowohl seines Ursprungs als seines Endes. Und wir be—
haupten, daß er irre, und daß die Weisheit gegen ihn spreche: Tretet
herunter von euren Höhen, eingebildete Glückselige! ihr seid euren
armen Brüdern gleicher, als ihr meint. Eure Herkunft, euer Ruf,
euer Ende machen euch nicht allein denen ähnlich, von welchen ihr euch
so sorgfältig absondert, auch eure äußerlichen Umstände vereinigen euch
mit ihnen.
23. Zohann Beter Hebel. 1760- 1826.
Sämtliche Werke. Karlsruhe 1832. Bd. 3. Erzählungen des rheinischen Hausfreundes.
53. Schlechter Lohn.
I. c.. S. 53.
Als im letzten Krieg der Franzos nach Berlin kam in die Re—
sidenzstadt des Königs von Preußen, da wurde unter anderm viel
königliches Eigentum weggenommen und fortgeführt oder verkauft.
Denn der Krieg bringt nichts, er holt. Was noch so gut verborgen
war, wurde entdeckt und manches davon zur Beute gemacht; doch nicht
alles. Ein großer Vorrat von königlichem Bauholz blieb lange unver—
raten und unversehrt. Doch kam zuletzt noch ein Spitzbube von des
Königs eigenen Unterthanen, dachte, da ist ein gutes Trinkgeld zu
verdienen, und zeigte dem französischen Kommandanten mit schmun—
zelnder Miene und spitzbübischen Augen an, was für ein schönes
Quantum von eichenen und tannenen Baustämmen noch da und da
beisammen liege, woraus manch tausend Gulden zu lösen wäre. Aber
der brave Kommandant gab schlechten Lohn für die Verräterei und
sagte: „Laßt Ihr die schönen Baustämme nur liegen, wo sie sind.
Man muß dem Feind nicht sein Notwendigstes nehmen. Denn wenn
Euer König wieder ins Land kommt, so braucht er Holz zu neuen
Galgen für so ehrliche Unterthanen, wie Ihr einer seid.“
Das muß der rheinländische Hausfreund loben und wollte gern aus
seinem eignen Wald ein paar Stämmlein auch hergeben, wenn's fehlen sollte.