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derselben Zeit wurde unter einem verachteten und geknechteten Volke in
einem unscheinbaren Lande des fernen Ostens die Botschaft des Heils, die
die Menschheit verjüngen sollte, als belebendes Senfkorn in die Erde
gesenkt. Aber wie in der äußern Natur das junge Leben erst aus der
Verwesung des alten Zustandes emporblüht, so mußte auch im Völkerleben
erst das Alte untergehen, ehe die neue Schöpfung Wurzeln schlagen und
Früchte tragen konnte. Die erste Periode des folgenden Bandes wird
diesen Proceß, dieses Vergehen und Werden im Einzelnen darlegen. Das
heidnisch-römische Alterthum in seiner Entartung und Lasterhaftigkeit, in
seiner sittlichen Fäulniß und geistigen Erschlaffung war der Form und dem
Wesen nach dem Tode verfallen, und bedurfte einer neuen Gotteskraft, um
ihm den verjüngenden Odem einzuhauchen. Diese neue Gotteskraft war
bereits erschienen, aber die versunkene Welt, statt sie anzuerkennen und in
sich aufzunehmen, suchte sie durch blutige Verfolgung zu ersticken, bis sie
selbst im ohnmächtigen Widerstande zusammenbrach. Als endlich das heilige
Feuer der Vesta erloschen, als die Sibyllen und Orakel des Heidenthums
verstummt waren, da trat das Evangelium seinen überwältigenden Triumph¬
zug an und pflanzte das Kreuz als neues Symbol der Weltreligion auf.
Aber der neue Glaube bedurfte auch eines neuen starken Trägers; die alte
Römerwelt erlag den kraftvollen Schaaren, die aus Deutschlands dunkeln
Wäldern hervorgingen und auf den Trümmern des weltbeherrscheuden
Reiches neue Staaten unter germanischen Heerkönigen aufrichteten. Dieser
wehevolle Tedeskainpf und die daraus hervorgehende Neugestaltung bildet
den Inhalt der zweiten Periode, als die Völkerwandernng über
die Erde zog und ihre blutigen und verheerenden Spuren zurückließ. Mit
der alten Welt ging auch die edle Kultur zu Grabe und die klassischen
Schriften der Griechen und Römer, an denen sich der Geist der folgenden
Geschlechter heranbilden sollte, wären der Vernichtung anheimgesallen, hätte
nicht das christlich-byzantinische Morgenland den heiligen Schatz gerettet, bis
das Abendland zu dessen Aufnahme stark genug war. Die Verjüngung des
Orients durch den Islam, der um dieselbe Zeit seinen siegreichen Lauf
über Asien und Afrika vollbrachte, war nicht von der Tiefe und nachhaltigen
Kraft des abendländischen Christenthums. —
Aus der Oede und Verwüstung, die im Gefolge der Völkerwanderung
auftrat, ging indessen bald neues Leben hervor. Aus der Verbindung der
germanischen Einrichtungen, Sitten und Gebräuche mit den Staats- und
Lebensformen der unterjochten Völker entwickelten sich allmählich die kom-
plicirten Verhältnisse des Feudalismus; aus der ungebundenen Kraft
und Kampfeslust des deutschen Waffenadels ging das Ritterthum hervor;
auf die religiöse Gläubigkeit des jugendlich begeisterten Geschlechts gründete
die christliche Kirche ihre Macht und Triumphe. Die Ergebnisse dieser
drei mächtigen Faktoren des mittelalterlichen Lebens bilden den Stoff zu
der dritten und vierten Periode, dem Höhepunkt des germanisch¬
christlichen Mittelalters. Der Feudal- oder Lehnsstaat beruhte auf der