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nirgends existirt, als in unserer Vorstellung, so ist eS eine
eingebildete oder abergläubige Furcht.
Pauline hatte große Lust zu den noch unreifen
Aepfeln, die in ihrem Garten hingen. Aber der Vater hatte
ihr gesagt, daß der Genuß des unreifen Obstes sie krank ma¬
chen würde und dann müßte sie übelschmeckende Arznei ein¬
nehmen, viele Schmerzen ausstehen und könnte gar sterben.
Durch die Vorstellung dieser Uebel ließ sich Pauline abhal¬
ten, so groß auch ihre Lust war. Was hielt sie also ab?
Wie war diese Furcht?
Lenore hatte in ihrer Kindheit von einer unverständi¬
gen Wärterin oft Gespenstergeschichten gehört und glaubte es
steif und vest, daß die Seelen verstorbener Menschen und an¬
dere Geister noch oft sichtbar auf der Erde herum schwebten
und besonders zur Nachtzeit die Menschen erschreckten. Einst
sollte das abergläubische Mädchen, da sie schon erwachsen war,
m einer entfernten Kammer allein schlafen. Es kostete Mühe
sie dazu zu bringen. Aber eS dauerte nicht lange, so er¬
hob sich cm lautes Geschrei und kam in Todesangst gelaufen,
aveckte das ganze Haus, und versicherte hoch und theuer, in
ihrer Kammer sei ein Gespenst; denn eine lange, weiße Ge¬
stalt habe sich an dem Kleiderschränke immer hin und her
bewegt. Der Vater ging mit dahin, um Alles zu untersuchen
und fand, daß ein langes, weißes Handtuch an dem Schran¬
ke hing, welches Lenore erst nicht gesehen hatte; diese- wur¬
de durch den Luftzug bewegt, weil ein Kammerfenster, daS
gerade darauf stieß, offen geblieben war. Der Vater zeigte ihr
'den eiteln Grund ihrer Furcht, sie schämte sich und nahm
sich vor, künftig Alles zu untersuchen; aber es dauerte sehr
lange, ehe sich die thörichte Furcht verminderte und Lenore
legte sie nie ganz ab.
Wie hast du so eben diese Furcht genaunt? Warum
war sie das?
Furcht ist Krankheit kleiner Seelen,
Stärk're Geister fürchten nicht;
Doch das Uebel sich verhehlen,
Wäre Weisheit nicht, noch Pflicht; .
Vorsicht weiß sich zu bewahren,
Furcht stürzt tiefer in Gefahren.
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