Full text: Lesebuch für Ober-Klassen in katholischen Elementar-Schulen

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102. Frau Holle. 
Eine Wittwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön 
und fleißig, die andere aber häßlich und faul. Sie hatte aber 
die häßliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel 
lieber, und die andre mußte alle Arbeit thun, und nur der 
Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen mußte sich 
täglich hinaus auf die große Straße an einen Brunnen setzen 
und so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. 
Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war; 
da bückte es sich damit in den Brunnen, und wollte sie ab- 
waschen; sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. 
Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. 
Sie schalt es heftig und war so unbarmherzig, daß sie sprach: 
„Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol' sie auch wie¬ 
der herauf!" Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück 
und wußte nicht, was es anfangen sollte, und sprang in der 
Angst in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Als 
es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer 
schönen Wiese; da schien die Sonne und waren viel tausend 
Blumen. Auf der Wiese ging es fort und kam zu einem Back¬ 
ofen, der war voller Brod; das Brod aber rief: „Ach, zieh' 
mich 'raus, zieh' mich 'raus, sonst verbrenn' ich, ich bin schon 
längst ausgebacken!" Da trat es nun fleißig herzu und holte 
alles heraus. Darnach ging es weiter und kam zu einem Bau¬ 
me, der hing voll Aepfel und rief ihm zu: „Ach, schütt'le mich, 
wir Aepfel sind alle miteinander reif!" Da schüttelte es den 
Baum, daß die Aepfel fielen, als regneten sie, so lange, bis 
keiner mehr oben war; und dann ging es wieder weiter. End¬ 
lich kam es zu einem kleinen Hause, daraus guckte eine alte 
Frau; weil sie aber so große Zähne hatte, ward ihm angst 
und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihm nach: 
„Fürchte dich nicht, liebes Kind; bleib bei mir! Wenn du alle 
Arbeit im Hause ordentlich thun willst, so soll es dir gut geh'n; 
nur mußt du Acht geben, daß du mir mein Bett gut machst 
und es fleißig aufschüttelst, daß die Federn fliegen; dann schneit 
es in der Welt; ich bin die Frau Holle." Weil die Alte ihm 
so gut zusprach, willigte das Mädchen ein und begab sich in 
ihren Dienst. Es besorgte auch Alles nach ihrer Zufriedenheit
	        
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