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84. Die Nächstenliebe.
Ein armer Reisender konnte im tiefen Schnee dd Stadt
nicht erreichen, sondern befand sich, als er, von Müdig¬
keit und Kälte betroffen, am Wege sitzend eingeschlafen
war, in großer Gefahr, zu erfrieren. Zwei Bauern
fuhren auö der Stadt nach Hause. HanS, der den er¬
sten Wagen fuhr, sah den Schlafenden liegen. „Da
„liegt ein Mensch/' rief er, „der ist entweder todt oder
„betrunken." Christian, der den zweiten Wagen fuhr,
hielt gleich still, stieg ab, und versuchte lange, ob er
ihn aufwecken könnte, fand aber keine Bewegung an
ihm. „Komm," rief Hans, „laß ihn liegen; was geht
„er unö an? wir müssen nach Hause." „Nein," ant¬
wortete Christian, „ich habe in der Schule gehört, daß,
„wenn ein Mensch auch schon erfroren ist, ein vernünf¬
tiger Arzt ihn dennoch retten könne. Hilf ihn mir auf
„meinen Wagen laden, ich will zurück nach der Stadt
„fahren und ihn zum Arzt bringen." „Da- wäre mir
„eben recht," antwortete HanS, „ich sitze hier einmal
„warm, und sollte mir die Füße wieder kalt machen."
Und damit fuhr er fort. Christian hob ihn also allein
auf seinen Wagen, fuhr nach der Stadt zurück, und
hatte die Freude, daß der verständige Arzt, zu dem er
den Erfrornen brachte, ihn wieder herstellte.
Alle gute Menschen, als sie diese That erfuhren,
liebten und lobten Christian; aber Hans ward, als ein
Liebloser, verachtet.
Wer deiner Hülfe bedarf, der ist dein Nächster,
dem sollst du helfen, wie du kannst, Luc. 10,29-37.
85. Der Menschenfreund.
Ech lange Wilhelm im Soldatenstande lebte, bewies
er sonderlich dadurch seine Rechtschaffenheit, daß er sich
der jungen Leute oder Rekruten annahm, die von Zeit
zu Zeit eingestellt wurden. Er wußte wohl, wie leicht
die Jugend verführt werden kann, und wie mancher lie¬
derliche Mensch nicht eher ruht, als bis er auch andere
verführt hat. Darum war Wilhelm bemüht, zuerst daS
Vertrauen der jungen Leute dadurch zu gewinnen, daß,
er ihnen allerlei Gefälligkeit erwies. So zeigte er ihnen’