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So durfte man denn wieder hoffen, und diese Hoffnung schien sich
denn auch bald in allerlei Gerüchten zu verwirklichen, die sich mit Eintritt
des Winters häuften und rasch von Mund zu Mund flogen. Bald wußte
man viel zu sagen von ernstlichen Verlegenheiten der großen Armee, von
Hunger, Frost und Blöße, von schrecklicher Bedrängnis, unglücklichen Ge¬
fechten, Rückzug und Flucht. Immer lauter und kecker wurden die Ge¬
rüchte, obschon die amtlichen Berichte noch längere Zeit zu täuschen
fochten. Gewisses war nicht zu erfahren, und die Spannung steigerte
fich ins Ungeheure.
6. „Was gibt es Neues?" das war die gangbare Rede, mit der
man damals jedermann begrüßte. „Was gibt's Neues, Blanke?" so
Pflegte mein Vater auch seinen Stiefelputzer anzureden, einen alten, ver¬
drossenen Mann, der, wenn es ihm überhaupt zu antworten beliebte, sich
wohl herbeiließ, etwas von den Neuigkeiten mitzuteilen, die er auf seinen
Gängen in die Stadt erfuhr. Nun mochte es etwa gegen die Weihnachts¬
zeit sein, als der Alte sich auf obige Frage hinter den Ohren kratzte und
gleichgültig erwiderte, er wisse nichts, außer etwa nur, daß der Napoleon
m der Nacht einpassiert sei.
„Wer sagt das?" rief mein Vater, indem er aufsprang und den
alten Brummbär bei den Schultern packte. — „Nu, nu!" erwiderte der,
»wer soll's denn sagen? Die Leute sprechen's."
Der Vater ließ alles stehen und liegen, eilte in die Stadt und kam
bald mit der Bestätigung der großen Neuigkeit zurück. Napoleon war
wirklich angekommen, unangemeldet, allein und ohne alte oder junge
Garde. Ganz überraschend war er halb erfroren bei seinem Gesandten
vorgefahren, hatte diesen ans den Federn geschreckt, sich in sein warmes
Bett gelegt und war vor Tagesanbruch schon wieder abgereist. Der
Hiobspost von dem Untergange der Armee vorauseilend, hatte er Nord¬
deutschland wie ein Blitz durchzuckt, um in ein Dresdner Bett zu schlagen;
dann zuckte er weiter bis Paris.
7. Der alte Blanke bekam für seine Nachricht einen Taler, und die
zahlreich vorsprechenden Freunde tranken vom besten Rheinwein, den wir
im Keller hatten. So freudige Gesichter hatte man lange nicht gesehen;
denn wenn Napoleon als sein eigener Kurier die Armee verlassen hatte, so
mußte ihm das Wasser reichlich an die Kehle gehen.
Nun folgte eine Neuigkeit der andern; die früheren Gerüchte be¬
stätigten sich und wurden von der Wahrheit noch überboten. Wir horten
jetzt auch amtlich von dem grauenhaftesten aller Rückzüge, ja von der
völligen Vernichtung der unüberwindlichen Armee. General Jork ging
zu den Russen über; russische Heere drangen unaufhaltsam vor. Das
niedergetretene Preußen erhob sich mit jugendlicher Kraft, und immer
näher rückte auch uns die langersehnte Befreiung.
Wilhelm von Lügeigen. <Jugenderinnernngen eines alten Mannes.)