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12. In ber Kinderstube.
passendsten. Die sich mehr und mehr entwickelnde Anschauungs- und Dar¬
stellungskraft größerer Kinder fördere man durch Spielsachen, die dem
Beschäftigungstrieb, der Einbildungskraft, dem Formensinn ein stets neues
Feld öffnen, wie Baukästen für Knaben, Puppen und Puppenzimmer für
Mädchen; das Anschauungs-, Vorstellungs- und Unterscheidungsvermögen,
sowie den Farbensinn unterstütze man durch passende Bilderbücher für Knaben
und Mädchen, durch Zeichnungen zu Malversuchen bei Knaben, durch Küchen
samt Einrichtung, Puppenbekleidung für Mädchen. Nie versäume man, die
Kleinen anzuhalten, nach dem Spiele alles wieder mit' eigenen Händen zu
ordnen; schon das Kind lerne, daß es bewahren und verwahren muß, was
es in seinem Besitz erhalten will. Häufig erzähle man den Kleinen schöne
Geschichtchen aus Grimms Märchen, lehre sie hübsche Kinderlieber von Hofs-
mann von Fallersleben, und lasse sie Kindermärchen von Rückert, aus Grimms
Fabelbuch, Gülls Kinderheimat hören und nacherzählen; den älteren Kindern
suche man gute Jugendschriften zu verschaffen. Welche Lust herrscht im Kreise
solch weise beschäftigter, still sich vergnügender Kinder! Doch mehr noch der
Lust, wenn der Frühling hinauslockt ins Freie, in Garten und Wald, in
Thäler und auf Höhen! Da entfliegen sie uns; da lasset sie ziehen und,
besser noch, zieht mit ihnen!
Unvermeidlich ist wohl dann und wann ein Streit in der Kinderstube.
Entsteht ein solcher, so ruhe man nicht, bis die Streitenden sich versöhnt,
einander angelacht, durch einen Händedruck oder eine sonstige Zärtlichkeit
ihrer versöhnten Stimmung Ausdruck gegeben haben.
Eine Versündigung an der reinen, arglosen Kindesnatur ist es, wenn
man dem Kinde durch Erzählung alberner Geschichten oder gar durch eigenes
Beispiel Furcht beibringt. Die Furchtsamkeit ist wie eine ansteckende
Krankheit und wird besonders von den Dienstboten auf die Kinder vererbt.
Man vernichte die Furcht, wo sie sich zeigt, gleich im Keime; man lasse das
Kind den furchterregenden Gegenstand näher kennen und sich von dessen Un¬
schädlichkeit und Gefahrlosigkeit überzeugen. Auch eine allzugroße Ängstlichkeit
kann dem Kinde Furcht beibringen und es einer köstlichen Eigenschaft, des
harmlosen, kecken, kindlichen Mutes, berauben.
In den ersten Zeiten seines Daseins lebt das Kind im Naturzustand und
folgt im Essen, Trinken, in all seinen Bewegungen seinen Neigungen, ohne
eine Idee von den Forderungen zu haben, welche die Gesetze des Anstandes
an den Menschen stellen. Die Erziehung stellt uns jedoch die Ausgabe, ihm
Sitten beizubringen, welche eine unerläßliche Bedingung wahrer, allseitiger
Bildung sind. Unter die Gesetze des Anstandes fällt auch das Betragen der
Kinder bei Tische. Die diesbezüglichen Anstandsregeln sind ihnen mit Geduld
und Nachsicht beizubringen. Die Natürlichkeit der Kinder darf jedoch darunter
nicht Schaden leiden; sie sollen keine ängstlich steifen Gliederpuppen werden.
Wir dürfen unsere Kinder noch so sorgfältig erziehen, noch so sehr aus
ihr Wohl bedacht sein, unsere Thätigkeit hätte nicht den rechten Wert, wenn
wir nicht die kostbarste Blume des Menschenherzens in ihnen zu pflegen ver¬
stünden: die Religion.