154
Kuchen und Wein, mach' auf." — „Drück' nur auf die Klinke,"
rief die Großmutter, „ich bin zu schwach und kaun nicht auf¬
stehen." Der Wolf drückte auf die Klinke, die Tür sprang
auf, und er ging, ohne ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett
der Großmutter und verschluckte sie. Dann tat er ihre Kleider
an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett und zog die
Vorhänge vor.
Rotkäppchen aber war nach den Blumen herumgelaufen,
und als es so viele zusammen hatte, daß es keine mehr tragen
konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein, und es machte sich
auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, daß die Tür auf¬
stand, und als es in die Stube trat, da kam es ihm so selt¬
sam darin vor, daß es dachte: „Ei, du mein Gott, wie ängstlich
wird mir's heute zumut, und ich bin doch sonst so gerne bei
der Großmutter!" — Es ries „Guten Morgen," bekam aber
keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vor¬
hänge zurück; da lag die Großmutter und hatte die Haube tief
ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus. „Ei, Gro߬
mutter, was hast du für große Ohren!" — „Daß ich dich besser
hören kann." — „Ei, Großmutter, was hast du für große
Augen!" — „Daß ich dich besser sehen kann." — „Ei, Gro߬
mutter, was hast du für große Hände!" — „Daß ich dich besser
packen kann." — „Aber, Großmutter, was hast du für ein ent¬
setzlich großes Maul!" — „Daß ich dich besser fressen kann."
Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus
dem Bette und verschlang das arme Rotkäppchen.
4. Wie Rotkäppchen und die Großmutter gerettet
w urden.
Als der Wolf sein Gelüsten gestillt hatte, legte er sich
wieder ins Bett, schlief ein und fing an, überlaut zu schnarchen.
Der Jäger ging eben an dem Haus vorbei und dachte: „Wie
die alte Frau schnarcht, du mußt doch sehen, ob ihr etwas fehlt."