Full text: Bilder aus der allgemeinen Geographie und aus den aussereuropäischen Erdteilen (Bd. 1)

Sibtrien. 139 
noch lagern sie wogend über dem Haupte des Reisenden. Die Sonne 
geht auf. Wie eine Feuerkugel erscheint sie, die auf der Erdfläche 
daherrollen will. Nun spielen tausend Regenbogen auf dem Schnee 
und den von Eis starrenden Sumpfgräsern und den Zweigen der 
niedern Gesträuche. Diamanten, Troddeln, Fäden, Spitzen und Gehänge 
schwanken, flimmern und werfen Schatten, Flitter schweben glitzernd in 
der Luft — Strahlen schießen auf und wogen gleich Saatfeldern auf 
dem Boden — die durch den Nebel zurückgeworfenen und vergrößerten 
Schatten der Bäume steigen gleich Riesen aus der Erde empor in 
mannigfachen phantastischen Gebilden als Türme, Säulen und Schlösser 
— eine prachtvolle Erscheinung, die aber im nächsten Augenblicke schon 
wieder verschwunden ist. 
Die Sonne sinkt, und mit ihr zerrinnt der ganze bunte Zauber. 
Aufs neue dehnt sich in unabsehbarer Ferne die weiße Decke des 
Schnees aus! Aufs neue stehen ringsum die Gerippe der mit Reif 
belasteten Gesträuche. Kein Laut weckt die tiefe Stille dieser Wüste, 
man ist im Reiche des Todes. 
Endlich ist nach dem Kennzeichen die Stelle des Nachtlagers in 
der Nähe. Die Treiber ermuntern ihre Pferde durch den Ruf bar 
bar! (vorwärts) und bald ist man an Ort und Stelle. Hier soll über— 
nachtet werden. Schwarz gebrannte Baumstämme starren aus dem 
Schnee — hier die Feuerstätte. Die Reiter steigen ab. Die Jakuten 
entlasten ihre Pferde; andere von ihnen suchen Weideplätze auf, wo 
ihre Tiere mit leichter Mühe das dürftige Moos aus dem gefrorenen 
Sumpfe mit dem Hufe hervorscharren können; noch andere schleppen 
Reiser herbei. Allmählich flammt knisternd ein kleines Feuer auf; die 
Kaufleute lagern sich auf Decken um dasselbe her und erwarten Thee 
und Abendessen. Die Kleidung, so wie auch alles andere, ist von 
Frost staubweiß, die Larven sind mit Eis überzogen; man nimmt sie 
ab, um sie zu trocknen. Die Reisenden atmen freier; aber ihr Atem 
fliegt zischend als Reif; sie sprechen, und die Bewegungen der Töne 
sind in der Luft sichtbar. Es dauert lange, bis man den Schnee 
schmilzt, bis das gefrorene Brot auftaut und das Essen gekocht ist, 
das man genießen muß, ohne den Kessel von den Kohlen zu nehmen, 
und ohne die Handschuhe auszuziehen. Legt man sich aber schlafen, 
so muß man sich bis aufs Hemd entkleiden und sich in andere trockene 
Pelze hüllen, damit die von den Ausdünstungen durchdrungenen Pelze 
wieder trocken werden. Man kann sich denken, wie angenehm ein sol— 
cher Kleiderwechsel und ein Nachtlager bei solchem Wind und solcher 
Kälte ist. Oft erhebt sich in der Nacht ein Sturmwind und überdeckt 
Reisende und Pferde mit Schnee. Dann geschieht es zuweilen, daß 
man in dieser Lage zwei Tage bleiben muß, um den Tieren die nötige 
Ruhe zu gönnen. Mit dem Morgen beginnt die Reise wieder bei 
dem Glanze des Nordlichts, das entweder als Raketengarben über dem 
Himmel ausgebreitet liegt, oder als Regenbogen aufgeht, oder in leuch⸗ 
tenden Strahlen aufschießt. Die ganze Reise ist von ertötender Ein— 
förmigkeit. Nur ein unbehaglich krankhaftes Gefühl erinnert den
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.