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Anhang.
Poetik.
Einleitung.
1. Die Poetik ist die Lehre von dem
Wesen und den Formen der Dichtkunst.
Die Dichtkunst ist die Darstellung des
Schönen durch die Sprache.
2. Die Poetik ist ein Teil der Ästhetik
als der Lehre vom Schönen. Das Schöne
ist die Idee in der Erscheinung. Idee ist
jeder in seiner höchsten Vollendung gedachte
Begriff; dieser soll im Schönen anschaulich
und wirklich werden. Schön ist demnach
jede Erscheinung, welche ihrer Idee in
ihren wesentlichen Teilen entspricht.
3. Für die Erscheinung als solche, wenn
sie die Idee zur Darstellung bringen soll,
läßt sich als Gesetz aufstellen, daß sie Ein¬
heit in der Mannigfaltigkeit zeigen müsse.
Die Einheit ist aber bedingt durch Voll¬
ständigkeit, Harmonie, Rhythmus, Sym¬
metrie und Proportion der einzelnen Teile,
welche die Erscheinung bilden.
4. Dem Begriffe des Schönen verwandt
sind die Begriffe des Guten und Wahren.
Das Wahre erkennen wir, das Gute wollen
wir, das Schöne empfinden wir; jedes,
das Wahre, das Gute, wie auch das
Schöne, kann für sich bestehen, kann sich
aber auch mit dem anderen harmonisch
verbinden; vereint zeigen sic das Wesen
des Menschen in seiner höchsten Entwickelung.
5. Der Gegensatz des Schönen ist das
Häßliche. Auf den Stufen zwischen dem
Schönen und Häßlichen liegen: das Er¬
habene, das Furchtbare und das Grausige.
Gegensätze dieser drei Empfindungen sind:
das Niedere, das Gleichgültige und das
Reizende. Den Widerstreit dieser Empfin¬
dungen— d. h. den Umschlag des Schönen
in das Häßliche, des Erhabenen in das
Niedere u. s. w. — nennen wir das Ko¬
mische. Der Untergang des Erhabenen ist
tragisch.
6. Dargestellt wird das Schöne durch
die Schöpfungskraft in der Natur und
durch die menschliche Thätigkeit in der
Kunst. Man unterscheidet redende und
bildende Künste. Die redenden Künste
sind: Poesie und Musik, die bildenden: die
Baukunst, die Bildhauerei und die Malerei,
Die bildenden Künste wirken im Raume
und durch Körper für die Anschauung, die
Musik wirkt in der Zeit durch Töne für
die Empfindung, die Poesie wirkt im Reiche
unserer Phantasie durch die Sprache für
Anschauung und Empfindung.
7. Bei jedem Kunstwerke sind der In¬
halt und die Form zu unterscheiden. Den
Inhalt eines Dichterwerkes bildet der Ge¬
genstand, welcher poetisch erfaßt, gestaltet
und zur Anschauung gebracht werden soll.
Die Form eines Gedichtes aber wird be¬
stimmt: 1. durch den sprachlichen Ausdrucks
2. durch den Rhythmus, 3. durch die An¬
lage und Anordnung des Ganzen, wonach
sich verschiedene Dichtgattungen unterscheid
den lassen.
A. Der sprachliche Ausdruck in
der Poesie.
1. Wenn wir schon an den sprachlichen
Ausdruck in der Prosa]) die Anforderung
stellen, daß er richtig, klar und ange¬
messen sei, so gilt das in noch viel
höherem Maße von der Poesie. Dem
sprachlichen Ausdrucke in der Poesie bleibt
aber noch eine weitere Aufgabe; da die
Poesie nämlich auf die Phantasie und
lebendige Anschauung zu wirken hat, so
') Die Prosa ist wesentlich ein Erzeugnis des Verstandes, die Poesie ein Produkt
der Phantasie; das Ziel der Prosa ist Darstellung der Wahrheit, das Ziel der Poesie
ist Darstellung der Schönheit. Die Prosa will auf den Verstand wirken, das Wissen
bereichern, die Poesie will das Gemüt, den Willen anregen, das sittliche Verhalten des
Menschen bestimmen. Die Form der Prosa ist die ungebundene, die Form der Poesie
ist die gebundene Rede; dabei ist aber nicht ausgeschlossen, daß es dichterische Erzeugnisse
giebt, welche der gebundenen Form entbehren, wie denn auch die gebundene Form
keineswegs allein hinreicht, um ein Gedicht zum Kunstwerk zu erheben.