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Mutter, die von ihren Kindern getrennt wird, nicht abschrecken.
Ihre Kinder sind in San Fernando de Atabapo; sie muß wie¬
der dorthin kommen, dieselben aus der Gewalt der Gurten be¬
freien, und ihrem Vater an die Gestade des Guaviare zurück¬
führen. Im Caravanscrai hütet Niemand das Weib. Weil ihre
Arme bluteten, hatten die Indianer von Javita, ohne Vorwissen
des Missionars und der Alkaden, sie nun locker gebunden; mit
den Zähnen gelang es ihr, die Bande völlig zu lösen: in der
Nacht war sie verschwunden, und am vierten Morgen ward sie
in der Mission von San Fernando in der Nähe der Hütte ge¬
sehen, wo ihre Kinder sich befanden. „Was dieses Weib aus¬
geführt hat," bemerkt der Missionar, welcher uns die traurige
Erzählung mittheilte, „hätte der kräftigste Indianer zu unterneh¬
men sich nicht getraut." Sie durchwanderte die Wälder in einer
Jahreszeit, wo der Himmel beständig mit Wolken bedeckt ist, und
die Sonne wenige Minuten nur sichtbar wird. Ist sie etwa dem
Lauf der Gewässer gefolgt? Allein die Ueberschwemmungen der
Flüsse nöthigten sie, von den Ufern entfernt mitten durch den Wald
ihren Weg zu nehmen, wo die Bewegung der Wasser beinahe
unmerklich ist. Wie oft mußte sie durch jene stachligen Schling¬
pflanzen, welche ein Gitterwerk um die von ihnen umschlungenen
Bäume bilden, aufgehalten werden! Wie oft mußte sie schwim¬
mend über die Flüsse setzen, welche sich in den Atabapo ergießen!
Das unglückliche Weib ward gefragt, womit sie sich die vier
Tage über genährt habe. Ihre Antwort war, sie habe, durch An¬
strengung erschöpft, keine andere Nahrung gefunden, als jene
großen schwarzen Ameisen, die vachacos heißen und in langen
Reihen die Bäume aufsteigen, an denen sie ihre harzigen Nester
befestigen. Wir drangen in den Missionar, er möchte uns sagen,
ob dem Guahiba-Weib endlich dann das Glück des ruhigen Bei¬
sammenlebens mit ihren Kindern zu Theil geworden sei, und ob
man die an ihr verübte unsägliche Grausamkeit endlich bereut
habe. Er weigerte sich die Frage zu beantworten; aber aus der
Rückkehr von Rio Negro vernahmen wir, daß man der India¬
nerin nicht einmal Zeit ließ, ihre Wunden zu heilen, daß sie
nochmals von ihren Kindern getrennt und in eine der Missionen
am Ober-Orinoco gesandt ward, wo sie, durch Weigerung aller
Nahrung, wie die Wilden in großem Unglück zu thun pflegen,
sich den Tod gab.
Dies sind die Erinnerungen, welche an dieser traurigen Fels¬
bank, der piedra de la madre, haften. Ich bin in der Be¬
schreibung meiner Reisen nicht gewohnt, bei Erzählung der un¬
glücklichen Schicksale von Einzelnen zu verweilen. Diese kommen
überall häufig vor, wo Herren und Sklaven angetroffen werden,
wo civilisirte Europäer neben rohen Völkern sich befinden, wo Prie-