Vorwort )\\x ersten Auflage.
Die nächste Veranlassung zur Herausgabe dieses Buches war der schon seit Jahren
vielseitig geäußerte Wunsch, daß ich dem Lesebuche für die unteren und mittleren Klassen,
welches bereits in acht (jetzt 36) starken Auflagen seine Verbreitung gefunden, aud? einen
zweiten Theil, für die oberen Klassen, anschließen möge, der in demselben Geist und Sinne
bearbeitet sei. Daher sind es auch zunächst die Freunde jenes ersten Theiles, welchen der
gegenwärtige zweite sich zu gleichem Dienste erbietet. Da nun Geist und Sinn derselbe
geblieben, sich überdies anderweitige Gelegenheiten gefunden, bei welchen der Verfasser sich
über den Deutschen Unterricht ausführlicher auszusprechen gern Veranlassung genommen, und
da endlich im Verlaufe des gegenwärtigen Werkes selbst, namentlich in den letzten Abschnitten,
vielfache Gelegenheit und Nothwendigkeit zu grundsätzlichen Aussprüchen und Erörterungen
gewesen, so bedarf es diesmal keiner umfassenden Einteilung, uin den Boden zu bezeichnen,
auf welchem das Ganze entsprungen, und auf dem es seine Wirksamkeit und Früchte sucht.
Es ist aber ein Boden, der sowohl im Ganzen, als in manchen vielleicht minder wesent¬
lichen Einzelnheiten einen Geist der Entschiedenheit offenbart; und da mögen diejenigen, die
ich meine, es fühlen, daß ich sie meine, wenn ich die aufrichtige Bitte aussprcche, daß
niemand durch solche Entschiedenheit sich verletzt fühlen möge, sondern jeder bedenken wolle,
daß ohne Entschiedenheit keine Wahrheit Frucht bringt und keine Unwahrheit zu nichte wird. ,
Die allgemeinen Gesichtspunkte, welche bei der Abfassung leitend gewesen und in der
Natur der Sache begründet sein dürften, sind folgende:
1) Der sittliche und religiöse. Ohne Sittlichkeit hört die menschliche Würde auf;
was der Sittlichkeit widerspricht, kann die Sinne reizen, aber nimmer dem Geiste gefallen,
weil es dem Geiste selbst widerspricht. Es gibt aber keine wahre und dauernde Sittlichkeit
ohne die Religion; denn der Geist der Sittlichkeit ist der Geist Gottes. Ein ganzes Volk
ohne Religion ist ein Phantom; cs hat keins gegeben und wird keins geben; und so ist
auch der einzelne Mensch ohne Religion einem Phantome gleich zu achten; nur die Negation
unterhält seine Form, sonst würde er in sich selbst zerrinnen. Eben so kann sich auch
niemand ein großes Dichterwerk ohne religiöse Ideen denken; es hat keins gegeben und wird
keins geben; und darum gilt dasselbe auch von jedem kleineren, wenn man zu seinen letzten
Keimen zurückgeht; kurz, wie die ganze Natur, so lebt auch alles wahrhaft Schöne nur im
Göttlichen; aber es braucht das Göttliche nicht immer zur unmittelbaren Schau zu treten,
sondern das ist oft gerade ungöttlich, und geht aus Heuchelei und seelenlosem Machwerk
hervor; es soll nur heißen: was dem Sittlichen und Göttlichen widerstrebt, kann niemals
der ganzen Seele wohl thun und darum auch nicht wahrhaft schön sein. Das sind die
Grundsätze in sittlicher und religiöser Hinsicht; und so hoffen wir, daß in dem ganzen
Buche sich kein Wörtchen vorfinde, welches dem Sittlichen und Religiösen entgegen wäre,
daß sich vielmehr alles in seiner Zusammenwirkung zu dessen Verherrlichung vereinige.
Insbesondere aber glauben wir, daß der Schule das höchste Zartgefühl gebühre; denn gar
manches, was man ohne Bedenken von der Jugend gelesen weiß, ja, wegen seines Gesammt-
gehaltes gelesen wünscht, würde in der Schule, bei lautem Vorlesen und auf Erklärung des
Lehrers angewiesen, nicht ohne Befangung und darum auch nicht ohne Versuchung vorüber¬
gleiten. Diesem Zartgefühl emsprechend, haben wir manche, nach Werth und literarischer
Stellung sonst bedeutsame Gedichte fallen lassen, und an einigen wenigen, übrigens kaum
beachtenswerthen Stellen eine leichte Aenderung oder Auslassung nicht für unerlaubt gehalten.
2) Der ästhetische und literarische. Im Ganzen ist der Grundsatz befolgt worden,
nur das Schöne und Bedeutsame vorzuführen, und zwar unter Manchfaltigkeit der Stoffe
und der Formen. Allein die literarhistorische Rücksicht gebot, auch manches aufzunehmen,
was einer ästhetischen Kritik gegenüber sich nicht bewähren dürfte, so daß wir durchaus nicht
alles Aufgenommene für classisch schön erklärt haben wollen. Und auch das hat sein Gutes
für den mündlichen Unterricht; es soll ja gerade in den oberen Klassen auch die ästhetische
Kritik geübt werden. Andererseits konnte nun wieder die literarhistorische Rücksicht nicht so
scharf gehalten werden, daß von den einzelnen Dichtern auch gerade die am meisten charakte¬
ristische Seite vorgekehrt, oder die Verschiedenartigkeit ihrer Gedichte herausgestellt würde;
im Gegentheil soll hier ja alles in so fern eine beherrschende Gleichmüßigkett tragen, alsNo full text available for this image
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