Full text: Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen

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meine in Rippach gemachten Bekanntschaften, und sahe meine Ankunft für 
ein Glück an. Kurz, ich nützte mein Ansehen, und schrieb (an wen dächten 
Sie?) an den Rittmeister K**, und bat, daß er keine solche tyrannische 
Husaren mehr nach Bonau schicken sollte, wenn er mich anders lieb hätte. 
Ich hoffte von diesem Briefe gute Wirkung. Vielleicht kann auch einmal 
ein demüthiger und friedfertiger Schriftsteller eine Dame beschützen, die alle 
Landstände vor solchen Anfällen nicht würden schützen können. Sie hat 
sich, da sie nicht mehr in Furcht ist, größtentheils erholt, und mir selbst be¬ 
fohlen, es Ihnen zu melden, in welcher Gefahr sie bisher seit vier Wochen 
gewesen ist. Dies habe ich nun, däucht mich, sehr treulich gethan. Jetzt 
will ich also spazieren gehen, und wünschen, daß keine Husaren wieder kommen. 
Leben Sie wohl! 
Gellert. 
Bonau, den 13. Mai 1760. 
Charitas an Rabcner.*) 
Mein Herr! 
Das ist der erste Brief, den ich in meinem Leben schreibe. Ich bin ein 
Mädchen von 3—400 Wochen. Vor etwa drei Monaten habe ich angefangen 
schreiben zu lernen. Man sagt, ich schreibe für die kurze Zeit, da ich gelernt 
habe, recht hübsch. Es wäre mir lieb; doch möchte ich mich nicht gern be¬ 
trügen. Sie sollen Richter sein. Belieben Sie Ihre Gedanken darüber 
nur einigen Ihrer guten Freunde zu sagen, so will ich sie bald erfahren. 
Schmeicheln Sie mir nicht. Erfahren sollen Sie aber auch nicht, wer ich 
bin, bis ich gehört habe, wie Ihr Urtheil ausfallen wird. Verzeihen Sie 
meiner Freiheit. Ich bin Ihre Dienerin und heiße mit dem Vornamen 
Charitas. 
Nabencr an Charitas. 
Dresden, ven 9. December 1757. 
Recht schön, meine artige kleine Correspondentin, allerliebst schön schrei¬ 
ben Sie. Ganz gewiß müssen Sie sich in Ihrer Zeitrechnung geirrt haben; 
denn unmöglich kann ein Mädchen von 400 Wochen so richtig und so schön 
schreiben. Aber ich besinne mich, das schöne Geschlecht braucht kaum so viele 
Monate, wie wir Mannspersonen Jahre brauchen, recht gut oder recht 
schlimm zu werden. 
*) Gest. 1771 als Obcrsteucrrath in Dresden. Die Veranlassung dieser und 
mehrerer andrer Briefe beider Personen ist folgende: N. war oft in einer ange¬ 
sehenen Familie, in welcher sich ein paar junge Mädchen befanden. Diese kamen 
auf den Einfall, mit ihm unter dem erdichteten Namen Charitas und Barbara 
einen Briefwechsel anzufangen. Anfangs merkte er nicht, wer die Verfasserinnen 
waren. Als es ihm endlich ein Zufall entdeckte, setzte er dennoch eine Zeit lang 
den Briefwechsel in demselben Tone fort, bis er eine Erklärung für gut fand.
	        
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