Full text: Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen

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Wenn Sie meine liebe Unbekannte, dieses noch nicht verstehen, so fra¬ 
gen Sie nur Ihre Tanten, die werden es Ihnen gewiß erklären. Sie war¬ 
nen mich, ich solle Ihnen nicht schmeicheln? O merken Sie sich die War¬ 
nung, ich bitte Sie darum. Nicht alle Mannspersonen sind so aufrichtig, 
wie ich es bin. Sobald Sie achthundert Wochen alt sind, werden Sie er¬ 
fahren, daß ich heute wahr geredet habe. Sie schreiben mir doch bald wie¬ 
der? Wie sorgfältig will ich Ihren Brief aufheben, da er, wie Sie sagen, 
der erste ist, den Sie in Ihrem Leben schreiben. Mir wird er allemal schätz¬ 
bar, und künftig für viele ein Heiligthum sein, die Ihre Briese vergebens 
wünschen. Habe ich Ihnen nun genug gesagt? Nun erfahre ich doch Ihren 
ganzen Namen? Ich möchte mich gern mündlich bei Ihnen bedanken und 
Ihnen die Händchen küssen. 
R a b e n e r. 
Mein Herr! 
Ist es wahr, daß Sie sich die Mühe nehmen, und mir auf meinen 
gestrigen Brief antworten wollen? Die Frau, die ihn überbrachte, hat es mir 
beredet. Damit könnten Sie mir eine rechte Freude machen. Wie fleißig 
wollte ich ihn durchbuchstabiren, und allemal in meinem Schränkchen wieder 
aufheben. Schreiben Sie geschwind, die Frau soll darauf warten. An solche 
kleine Mädchen haben Sie doch noch nicht geschrieben. Ich möchte schon 
wissen, was für eine Vorstellung Sie sich von mir machen. Warten Sie, 
ich will sehen, ob ich mich beschreiben kann. Ich bin für mein Alter sveder 
zu groß, noch zu klein; schön sehe ich nicht aus, aber auch nicht häßlich. 
Artig, manierlich? — ich will aufrichtig sein — so gar sehr artig und ma¬ 
nierlich, wie viele Andere von meinen Jahren, bin ich auch nicht. Ich bin 
mehr ernsthaft als lustig, und halte mich gern zu erwachsenen Personen, die 
sittsam und verständig sind. Ich habe — nein! das sagt Charitas nicht. 
Schweigen muß sie; sonst wird sie sich verrathen, und das thut sie nicht. 
Charitas. 
Sie sind schalkhaft, meine kleine Freundin, beinahe so schalkhaft wie 
ein erwachsenes Mädchen. Ich hoffte gewiß, ich würde Sie heute kennen 
lernen. Sie können wohl glauben, daß ich mich sehr darauf freute. Voll 
Ungeduld erbrach ich Ihren Brief; ich lief ihn flüchtig durch, ich las ihn 
noch einmal, noch zweimal mit der größten Aufmerksamkeit durch, und nun 
weiß ich heute eben so wenig, wie ich gestern wußte. Aber nehmen Sie 
sich in Acht, meine gar zu verschwiegene Charitas! ich habe schon mit dem 
Gerichtsamtmanne gesprochen. Noch in dieser Woche, vielleicht morgen, soll 
durch die ganze Stadt in allen Quartieren Haussuchung gethan werden. 
Alle Mädchen von drei- bis vierhundert Wochen, die nicht zu groß und 
nicht zu klein, nicht zu schön und nicht zu häßlich, mehr ernsthaft als 
lustig sind, alle diese Mädchen sollen zusammengebracht werden. Was wetten 
wir? ich ertappe Sie? Ich werde eine Jede nach der Reihe fragen: ob sie
	        
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