Full text: Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen

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Sittlichkeit schon halb, wo nicht ganz verloren. Sittlichkeit ist freie Unter¬ 
werfung unter das Gesetz, das man für ein Wort der Nothwendigkeit, der 
Weisheit, der Liebe anerkennt. Das Kind unterwirft sich anfangs aus Zwang, 
bald aus Gewohnheit, dann aus Liebe, weit später aus Achtung. Sie sind 
Ihrer Serena Gesetzgeberin und Gesetz. Macht sie jetzt Sie von sich ab¬ 
hängig, so wird ihr weiterhin jedes Gesetz lästig sein. Unterordnung unter 
den Willen der Mutter ist dem Kinde Vorschule der Pflicht. — Nur Festig¬ 
keit in Liebe — ein Fruchtbaum, der nährt und schützt, ohne sich beugen zu 
lassen — nur sie ist die Mutter des reinen, freudigen Gehorsams, erst gegen 
Menschen, bald gegen Gott. ■— Liebe, braucht sie Serena erst zu lernen? 
Wehe dem Kinde, das sie erst lernen müßte! Mein Sohn äußerte neulich, 
daß er seinen Brüdern recht herzlich gut wäre. „Wohl!" sagte ich; „aber 
nenne mir auch Jemanden, dem du nicht gut bist." — „Ja, Vater!" sagte 
er nach einigem Besinnen, „da wüßte ich doch in der ganzen Welt keinen 
Menschen, dem ich nicht gut wäre." So ist das natürliche Kind. Und wir? 
Es sei denn, daß wir uns umkehren, und werden wie die Kinder, können 
wir nicht in's Himmelreich kommen. Was soll ich thun, um meinem Kinde 
diese Liebe zu bewahren? Nichts, nichts, edle Mutter, durchaus nichts. Dies 
macht sich von sich selbst. Nur wachen Sie, daß Niemand das Kind mit 
Ungerechtigkeit und Härte behandle. Liebe zur Menschheit wächst von selbst, 
wie Liebe zum Leben. Und der Sittlichkeit majestätischer Strom entspringt 
im Haine der Liebe. — Nachahmungstrieb. Gewiß, Sie fühlen, was 
in dem Worte liegt, und wachen über die Umgebungen Ihres Kindes. Nach¬ 
ahmungstrieb ist wie die untersten Blätter des Kornhalms. Sie nähren die 
Aehre in ihrem Busen. Aber ist diese heraus und steht für sich, dann fallen 
jene ab, denn sie haben ihre Bestimmung erreicht. —Thätigkeitstrieb, 
welcher Tugend Umfang läge nicht in ihm! Minder weise Mütter klagen oft 
über ihn, weil er ihnen Mühe, Zeitaufwand, bisweilen auch einigen Verdruß 
verursacht. Freilich sitzt das trägere Kind ruhig, indeß die Mutter plättet 
oder — plaudert. Aber natürlich ist dem Kinde dieser Zustand nicht, wohl¬ 
thätig noch weniger. Wo mit dem Schlafe kein todtes und tödtendes Pflanzen¬ 
leben, wo mit ihm Spiel, Bewegung, Anschauen, Gespräch in stetem Wechsel 
stehen — da, Mutter, hast du dem Laster die Pforte verriegelt, durch die es 
am häustgsten eindringt. 
Ich war neulich in einem französischen Garten. Da hatte der Gärtner 
mit unermüdetem Fleiße Hecken beschnitten, und Bäumen allerlei künstliche 
Figuren gegeben, daß nicht ein Blättlein hervorsah, dem er nicht seine Lage 
angewiesen hätte. Die Beete waren lieblich eingefaßt, und der Boden hier 
und da mit buntfarbigen Steinen belegt. Es gab viel Blumen und wenig 
Früchte, viel Mühe und wenig Gewinn. Man hatte die Natur in Formen 
gegossen, aus denen sie, bei Strafe des Messers und der Scheere, nicht wei¬ 
ter durfte. Das, dachte ich, ist die Erziehung der Kunst, des systematischen 
Gärtners. Ich kam in eine schöne Gegend, wo die Natur fast freie Hand 
hatte. Man hatte ihr anvertraut, was sie ernähren konnte. Da wuchs es 
nun ohne Zwang und Schnitt. Nur was die Fruchtbarkeit hinderte, war
	        
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